Führerscheinentzug mit 70 für Auto- und Motorradfahrer?

Die EU möchte regelmäßig Tests der Fahrtauglichkeit für Senioren durchführen lassen. Sinnvolle Erhöhung der Verkehrssicherheit oder bürokratische Diskriminierung?
05.07.2023
| Lesezeit ca. 8 Min.
adobestock.com – Peter Maszlen
Die CDU und auch der FDP-Verkehrsminister sind dagegen, die Grünen dafür. Persönliche Freiheit oder Sicherheitsaspekte – was wiegt mehr? Und was würde eine regelmäßige Fahrtüchtigkeitskontrolle tatsächlich bringen?

Erklärungsbedarf – was will die EU?

Die EU möchte die Regelungen, wer Auto und Motorrad fahren darf und wer nicht, weiter vereinheitlichen. Das kann auch Vorteile mit sich bringen. So profitierte auch die B196-Klausel von einer europaweiten Gültigkeit. Es geht also um die Frage, ob Auto- und Motorradfahrer, die in dem einen EU-Land den Führerschein verlieren würden, ihn in einem anderen Land weiter benutzen können. Die Frage, ob ältere Menschen EU-weit regelmäßige Fahrtests absolvieren sollen, stellt sich deshalb, weil dies in EU-Ländern wie Italien oder Spanien bereits der Fall ist. In der Unfallstatistik liegt Italien weit hinter Deutschland zurück, Spanien ist auf Augenhöhe. Der Führerschein auf Lebenszeit, wie es ihn in Deutschland gibt, könnte trotzdem schon bald der Vergangenheit angehören. Der Vorschlag der EU lautet: Fahrtauglichkeitstests mindestens alle fünf Jahre für alle ab 70.

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Sollte die Fahrtauglichkeit im Alter per Gesetz obligatorisch überprüft werden?

Analyse der Unfallursachen – Unfallverursacher Pkw

Wenn wir aus Sicht eines Motorradfahrers schauen, so ist die häufigste Unfallursache nicht die allseits propagierte überhöhte Geschwindigkeit, sondern das Auto. Aktuelle Quellen zeigen, dass rund drei Viertel aller verunfallten Motorradfahrer in Kollisionen verwickelt sind. Dabei handelt es sich bei acht von zehn Unfällen um einen Pkw, der – je nach Quelle – mindestens zu zwei Dritteln die Schuld trägt. Die häufigste Unfallursache ist dabei das Missachten der Vorfahrt. Überdurchschnittlich oft sind ältere Pkw-Fahrer involviert.

Schwerverletzte und fehlende Fahrtüchtigkeit

Schaut man sich die Unfallstatistiken des Statistischen Bundesamts an, so schaut es reichlich düster aus, sobald der Pkw-Fahrer älter als 74 Jahre ist. Zwar nimmt die Kilometerleistung stark ab und infolgedessen die Aktivität im Straßenverkehr. Wenn es jedoch kracht, trägt der Senior in einem Pkw in Deutschland zu 75,9 % die Hauptschuld an dem Unfall. Erschwerend kommt hinzu, dass der Anteil an Unfallursachen, die auf fehlende Fahrtüchtigkeit zurückzuführen sind, deutlich höher ist als bei jüngeren Fahrergruppen. So ist das Missachten der Vorfahrt bei unter 65-Jährigen zu 16,7 % Unfallursache, bei älteren zu 21,5 %. Auch Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren kommen zu häufig vor. Aber auch für die Senioren selbst ist die Fahrt im Pkw gefährlicher als in jungen Jahren. 24,8 % der an Unfällen beteiligten älteren Menschen werden schwer verletzt, bei den Jüngeren sind es lediglich 15,7 %.
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Die aktuellen Unfallzahlen zeigen, dass immer noch zu viele Menschen im Verkehr sterben, mit steigender Tendenz besonders bei Menschen, die Rad fahren und zu Fuß gehen. […] Ich unterstütze auch den Vorschlag der EU-Kommission, die Verlängerung des Führerscheins mit einer Überprüfung der Fahrtauglichkeit ab 70 Jahren zu verbinden und die Gültigkeitsdauer auf 5 Jahre zu reduzieren. Das stärkt die Verkehrssicherheit für alle, denn ab einem Alter zwischen 70 und 75 Jahren nimmt die Unfallhäufigkeit im Verhältnis zur Fahrleistung deutlich zu. Wie genau eine Überprüfung der Fahrtauglichkeit aussehen kann, muss jetzt diskutiert werden. Bereits erprobte Verfahren in anderen europäischen Ländern können hier als Vorbilder dienen.“Swantje Michaelsen, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag

Gegenargumente – Gesetzestreue und weniger Unfallbeteiligungen

Für ältere Menschen, vor allem in ländlichen Gegenden, ist das Auto oft die einzige Möglichkeit, alltägliche Dinge wie Einkaufsfahrten zu erledigen. Bewegen sie sich in diesem bekannten Umfeld, sind sie rein zahlenmäßig nur an unterdurchschnittlichen 14,5 % der Unfälle beteiligt, machen aber rund 22,1 % der Bevölkerung aus. Auch wenn man die geringere durchschnittliche Kilometerleistung berücksichtigt, schneiden Senioren in dieser Statistik etwas besser ab als der Durchschnitt. Sie fahren weniger oft zu schnell, drängeln seltener und stehen nicht so häufig unter Alkoholeinfluss am Steuer wie jüngere Menschen.
Die Zahlen der Unfallstatistik lassen in Deutschland nicht erkennen, dass von älteren Kfz-Fahrern ein größeres Unfallrisiko ausgeht. Darum sollten Gesundheitsuntersuchungen nur anlassbezogen erfolgen, also falls konkrete Anhaltspunkte für körperliche oder geistige Fahreignungsmängel vorliegen. Eine anlasslose Pflicht zu Gesundheitsuntersuchungen ab einem bestimmten Alter – wie die EU-Kommission sie vorschlägt – lehnen wir Freien Demokraten ab. [...]“Bernd Reuther, Verkehrspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion


Ärztliche Fahrverbote – nur in Ausnahmefällen

Ärzte unterliegen der Schweigepflicht. Sie dürfen die Polizei nur dann informieren, wenn Gefahr im Verzug ist. Ein rechtlich verbindliches Fahrverbot dürfen sie nur aussprechen, wenn eine Krankheit, wie beispielsweise Epilepsie, ein Risiko darstellt. Viele unserer Nachbarn haben bereits verpflichtende Tests, die mit unterschiedlich hoher Seriosität durchgeführt werden. Ob dies zielführend ist, muss jeder für sich entscheiden, jedoch ist eines klar: Jemand, der fahruntüchtig ist, hat auf der Straße nichts zu suchen. Dabei ist es egal, ob er betrunken, zu alt oder anderweitig eingeschränkt ist und auch ob er nicht oder nicht mehr in der Lage ist, ein Fahrzeug zu führen. Das wird in anderen Fällen nicht der freiwilligen Selbstkontrolle überlassen und sollte es auch hier nicht. Ob regelmäßige Prüfungen oder Tests mit einem Pauschalverdacht der Nichteignung für alle ab einem gewissen Alter dabei zielführend sind, darüber gehen die Meinungen von Experten in Deutschland und seinen Nachbarstaaten auseinander.

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Es gibt auch 80-Jährige, die super fahren können, und 65-Jährige, die bereits Schwierigkeiten haben.“
Siegfrid Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer

Aktuelle Regelungen unserer Nachbarländer


Schweiz

In der Schweiz müssen Autofahrer über 75 im Abstand von zwei Jahren oder häufiger, wenn angeordnet, zur „Verkehrsmedizinischen Kontrolluntersuchung“.


Spanien

Wer in Spanien Auto fahren will, muss ab einem Alter von 65 Jahren den Führerschein alle fünf Jahre erneuern lassen. Jüngere Fahrer müssen dies lediglich alle zehn Jahre vornehmen.

Italien

Autoführerscheine in Italien sind generell nur maximal zehn Jahre gültig. Ab einem Alter von 50 Jahren muss man sie alle fünf Jahre erneuern lassen, ab 70 alle drei Jahre, ab 80 alle zwei. Ein medizinischer Check gehört immer dazu, ab einem Alter von 80 mit dazugehörigem schriftlichem Attest.

Deutschland

Seit 2013 gibt es in Deutschland den neuen EU-Führerschein. Das Dokument im Scheckkartenformat gilt jeweils für 15 Jahre. Bei einer Verlängerung sind bislang keine Gesundheitschecks vorgesehen, außer für Fahrzeuglenker mit Extra-Verantwortung wie Busfahrer.

Pauschale Überprüfungen sind nicht nur übertrieben, sondern auch altersdiskriminierend.“Joachim Herrmann, Innenminister Bayern, CSU

Pensionistenverbände und konservative Politiker sehen Diskriminierung

Spätestens, wenn das Wort Diskriminierung bemüht wird, hört man als Motorradfahrer besonders aufmerksam zu. Der durchschnittliche Motorradfahrer fährt genussorientiert, ist ein gesetzestreuer Tourenfahrer und genießt die Bergluft beim entspannten Dahingleiten, wird aber trotzdem zügig mit einem Motorradfahrverbot belegt und in Sippenhaftung genommen, während der Raser, der mitverantwortlich an der Streckensperrung ist, mit dem Pkw diese Route theoretisch weiter befahren darf. Für uns wäre die Möglichkeit, eine Prüfung abzulegen, die uns erlauben würde, auf allen Straßen mit den gleichen Tempolimits fahren zu dürfen, mittlerweile schon ein Fortschritt. Wenn wir die Diskriminierungskarte spielen, dann ab sofort bitte für alle Beteiligten im Straßenverkehr. Aber dafür bedarf es vielleicht eines Ministers, der selbst Motorradfahrer ist.

Die über 65-Jährigen sind gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung seltener an Verkehrsunfällen beteiligt als jüngere Verkehrsteilnehmer. Die Pläne der EU-Kommission für eine obligatorische Überprüfung der Fahrtauglichkeit alle fünf Jahre ab dem siebzigsten Lebensjahr sind deshalb völlig unverhältnismäßig und gehen an der Lebenswirklichkeit vorbei. […] Diesen massiven Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte ohne Not lehnen wir als CDU/CSU in aller Deutlichkeit ab.
CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag

Nachgefragt – was sagt das Bundesministerium für Digitales und Verkehr?

„Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine neue EU-Führerscheinrichtlinie ist derzeit Gegenstand der Verhandlungen im Rat. Deutschland ist der Ansicht, dass Gesundheitsuntersuchungen bei Pkw- und Motorradfahrern nur anlassbezogen, also bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für körperliche oder geistige Fahreignungsmängel, dann aber durch ausreichend qualifiziertes Personal erfolgen sollten. Dies gilt auch für Senioren. Dies hat Deutschland im Vorfeld des Richtlinienvorschlags wiederholt gegenüber der Europäischen Kommission so vorgetragen und wird diese Position auch bei den nun anstehenden Verhandlungen im Rat so vertreten.

Der Nutzen regelmäßiger Gesundheitsuntersuchungen ohne konkreten Anlass konnte für die oben genannte Fahrergruppe bislang wissenschaftlich nicht bewiesen werden. Auch die von der Europäischen Kommission initiierte Evaluation der 3. EU-Führerscheinrichtlinie kommt zu diesem Ergebnis. Die Zahlen der Unfallstatistik lassen jedenfalls für Deutschland derzeit auch nicht den Schluss zu, dass von älteren Kraftfahrern oder Kraftfahrerinnen ein erhöhtes Unfallrisiko ausgeht. Unter Berücksichtigung des jeweiligen Bevölkerungsanteils sind ältere Verkehrsteilnehmer und Verkehrsteilnehmerinnen (65 Jahre und älter) deutlich seltener Unfallverursacher als jüngere Verkehrsteilnehmer und Verkehrsteilnehmerinnen (18–24 Jahre). Bezieht man die Fahrleistung mit ein, dann ergeben sich 2020 für die Gruppe der 65+ Pkw-Fahrenden 556 Beteiligte je 1 Mrd. Fahrzeugkilometer und für die 18- bis 25-jährigen Pkw-Fahrenden 1.147 Beteiligte je 1 Mrd. Fahrzeugkilometer. Auch das fahrleistungsbezogene Risiko, als Pkw-Fahrer an einem Unfall mit Personenschaden beteiligt zu sein, ist bei den Senioren damit deutlich niedriger als bei der Gruppe der jüngeren Verkehrsteilnehmenden.“

Kompromiss in Sicht – Selbsteinschätzung alle 15 Jahre

Das BMDV teilt weiterhin mit: „Die Ratspräsidentschaft hat in der Zwischenzeit einen ersten Kompromissvorschlag vorgelegt, nach dem die Mitgliedstaaten selbst darüber entscheiden können, ob sie ab dem 75. Lebensjahr regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen oder Auffrischungskurse vorsehen. Nach dem Vorschlag in der Fassung des aktuellen Kompromisses müssen jedoch Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1, A2, A, B und BE alle 15 Jahre und über 75-Jährige alle 5 Jahre bei Erneuerung ihres Führerscheindokuments eine Selbsteinschätzung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit abgeben.“

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