Nachdem die EICMA im letzten Jahr coronabedingt eher auf Sparflamme lief und auch die Intermot 2022 viel von ihrem einstigen Glanz verloren hatte, war man gespannt auf die Messe in Mailand, die Ausblicke auf eine neue „Weltordnung“ in der Motorradindustrie lieferte.
Unterwegs auf der EICMA 2022 in Mailand. Innehalten und schauen. Auf der einen Seite der riesige Stand von Keeway, Benda und MBP, der neuen Premiummarke der chinesischen Qianjiang Motor-Gruppe. Auf der anderen Seite der Benelli-Stand, ebenfalls sehr groß und alles andere als anonym. In der angrenzenden Halle sieht man von Weitem das riesige CFMoto-Schild. Vorbei sind die Zeiten, als chinesische Firmen zusammen in einer Halle oder am Rand auf kleinen Ständen untergebracht waren, von denen der beißende Geruch der Weichmacher aus den Kunststoffteilen herüber waberte. Als die Leute noch zur EICMA kamen, um die Neuheiten der großen traditionellen Hersteller zu sehen. Einige von ihnen sind noch da, aber längst nicht alle: BMW, KTM mit Husqvarna und GasGas, Harley-Davidson sowie Beta sind der EICMA 2022 ferngeblieben, die asiatischen Hersteller zeigen dafür massive Präsenz.
CFMoto auf der EICMA 2022 Waren chinesische Produkte bis vor Kurzem noch von zweifelhafter Qualität, so sind sie heute in vielen Fällen im mittleren Preissegment angesiedelt und werden bald die Qualität von Premiumprodukten erreichen. Zu dieser Entwicklung haben auch die westlichen Hersteller selbst durch Kooperationen beigetragen, indem sie den Chinesen durch zahlreiche Joint Ventures die Möglichkeit gaben, in Lizenz zu produzieren. Zum Beispiel CFMoto, die jetzt die 800MT mit KTM-Motor anbieten und seit einiger Zeit in Italien ein Design- und Entwicklungsstudio unterhalten, um den europäischen Geschmack genau zu treffen. Oder das Unternehmen Voge, eine Tochterfirma von Loncin, wo BMW den 900-ccm-Zweizylinder-Reihenmotor (nach großen Startschwierigkeiten vor einigen Jahren) produzieren lässt. Der findet inzwischen Verwendung in der ansprechenden 900er-Crossover des chinesischen Herstellers.
Steigende Qualität in China auch dank Kooperationen mit europäischen Herstellern
Einer der Stars der EICMA 2022 ist die neue Honda XL750 Transalp Es ist davon auszugehen, dass dieses qualitative Wachstum der chinesischen Maschinen zu einem Anstieg ihrer Preislisten führen wird, aber mit Sicherheit werden die Maschinen aus Fernost noch lange erschwinglicher sein als jene, die komplett in Europa oder Japan produziert werden. Die Marktentwicklung spielt den Asiaten mit einer großen Nachfrage nach Mittelklasse-Motorrädern zu möglichst niedrigen Kosten in die Karten. Die Neuheiten der Premiummarken verdeutlichen das: Von Honda kommt keine neue CBR1000, sondern eine gefällige Transalp XL750, ein Scrambler CL500 und die Zweizylinder-Hornet 750. Suzuki setzt mit der V-Strom 800DE und dem neuen Zweizylinder-Reihenmotor (momentan arbeiten sehr viele Firmen an diesem Antriebskonzept) genauso auf dieses Segment.
Die Chinesen bieten also nicht nur Quantität, sondern inzwischen auch Qualität zu einem annehmbaren Preis. Wo geht die Reise hin? Und wie werden die europäischen Hersteller reagieren? Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob die chinesischen Hersteller am westlichen Markt erfolgreich sein werden. Vielmehr ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie endgültig aus dem Schatten des stereotypen „Billigproduzenten“ heraustreten, um die Performance und das Qualitätsniveau, vor allem der japanischen Konzerne, zu übertreffen. Neben den bisher bekannten großen Firmen wie CFMoto, Benelli, Keeway und Moto Morini, die alle mit Niederlassungen oder Entwicklungsabteilungen in Europa vernetzt sind, drängen nun weitere, weniger bekannte Marken mit gut gemachten und qualitativ hochwertigen Maschinen auf den Markt. Die neu gegründeten Firmen Kove oder QJ Motor sind noch auf der Suche nach Vertriebspartnern, während andere wie CFMoto und Voge schon „etabliert“ sind.
Marktgerechte Produkte in Rekordzeit
Wie ist das möglich? Extreme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an den Markt, gepaart mit einer unglaublichen Geschwindigkeit bei der Umsetzung. Eine solche extreme Feuerkraft findet man in Europa vielleicht noch bei Ducati und KTM, aber kaum noch bei den Japanern, die mit der gleichen Technik vor 40–50 Jahren die Weltmärkte erobert haben. Und genau in Richtung Japan wirft China den Fehdehandschuh in Form von schönen, dem Zeitgeist angepassten Motorrädern und Hubräumen, die für jeden erschwinglich sind.
Der Verdienst all dieser Hersteller besteht zweifellos darin, dass es ihnen gelungen ist, Generationen von Motorradfahrern oder solchen, die es werden wollen, wieder anzusprechen, die auf der Suche nach einfachen und erschwinglichen Motorrädern sind. Die Chinesen haben erkannt, dass die Jagd nach dem größten Motor oder dem mit den meisten Pferdestärken zum einen eine Stilübung um ihrer selbst willen ist, zum anderen aber nutzlos für das große Geschäft. Man hat gelernt, sich dem Geschmack des Publikums anzupassen. Und das sucht und fährt nun eben erschwingliche Maschinen, die gefällig gestylt sind und ein robustes Fahrverhalten versprechen.
Benelli TRK 502X Besitzer einer Benelli TRK 502 werden in Italien von den Fahrern der Premiummarken zwar noch belächelt, man darf aber nicht vergessen, dass auch diese Kunden Motorradkleidung sowie Zubehör kaufen und sich im Hafen von Livorno in der Schlange zur Fähre nach Sardinien einreihen. Sie beleben die Motorradszene und das Geschäft genauso wie die GS- und Multistrada-Fahrer, aber natürlich nicht im Hochpreissegment wie eben diese.
Keeway RKF 125 Benelli kann man inzwischen als chinesische Premiumbrand bezeichnen, dank der Zugehörigkeit zum Koloss Qianjiang und der Entwicklungsabteilung in Pesaro, Italien, schafft es die Firma, erwachsene Maschinen zu günstigen Preisen auf dem Markt zu platzieren. Die TRK 502, die man von Weitem kaum von einer GS unterscheiden kann, ist Marktführerin in Italien ebenso wie die Keeway RKF 125, die ebenfalls zur Qianjiang-Gruppe gehört. Neu im Firmenverbund ist die Marke MBP, die mal eben 30 neue Modelle auf dem Messestand präsentierte.
Was wird mit den Premiummarken passieren? Angesichts der Stückzahlen der chinesischen Konzerne erscheinen die rund 55.000 Ducatis, die circa 200.000 BMWs oder die über 300.000 KTMs fast als Nischenprodukte. Die Premiummärkte werden weiter leicht wachsen, es wird auch in Zukunft sowohl im Westen als auch im Orient immer Kunden geben, welche die nötigen finanziellen Mittel haben, um sich ein Premiumbike zu leisten. Der Markt an der Basis aber wird in Zukunft von den Firmen aus China bestimmt werden, und das ist die große Gefahr vor allem für japanische Hersteller.
Fantic trotzt der chinesischen Invasion und investiert in den Standort Europa
Voge Valico 900DS Es ist ein bisschen so wie der aktuelle Krieg in der Ukraine: Man stellt den Fernseher ab und wähnt sich einen Moment sicher oder man verschließt die Augen und geht zu den vielen abendlichen Empfängen im Rahmen der EICMA ins Stadtzentrum von Mailand. Dort fühlt man sich unter Kollegen beim Prosecco zum Beispiel in der MV Agusta Niederlassung in der „guten alten Welt“ (die sich aber auch für MV Agusta gerade dramatisch verändert) aufgehoben, wo super exklusive Designstudien präsentiert werden. Am nächsten Morgen aber, wenn man den Fernseher wieder anstellt und am Stand von Voge auf der EICMA den Besuchern zuhört, wird einem spätestens klar, dass für die japanische und auch die europäische Motorradindustrie ein gravierender Strukturwandel kommen wird. Vielen Kunden ist es nicht mehr wichtig, eine etablierte Marke zu fahren. Worauf es ankommt, sind Preis, Design und Äußerlichkeiten: „Boah, schau‘ mal, die hat sogar Brembo-Bremsen und kostet unter 10.000,-- Euro“ sind die Kommentare zur Crossover Voge 900 mit dem Zweizylinder BMW-Motor.
Fantic Caballero 700 Interessant ist die Entwicklung von Fantic. Nach der Übernahme des Motorenherstellers Minarelli aus Bologna, der 20 Jahre lang zu Yamaha gehörte, gibt die Firma richtig Gas und erinnert ein wenig an die impulsive und von Leidenschaft getriebene Hyperaktivität der achtziger Jahre von Cagiva unter Chef Claudio Castiglioni. Der Padrone hinter den Projekten heißt heute Mariano Roman, er sorgte als Entwicklungsleiter über 20 Jahre für den kometenhaften Aufstieg von Aprilia. Für 2022 sind Werksteams in allen wichtigen Weltmeisterschaften von Moto 2 über Motocross und Enduro am Start, im Januar geht es mit 3 Fahrern zur Dakar nach Saudi-Arabien. Gespannt sein darf man auch auf die neue Fantic Caballero 700 mit dem Zweizylindermotor CP2 von Yamaha, überraschenderweise bekommt dieser neue Scrambler ein komplettes Elektronikpaket, wie es Yamaha bisher nicht umgesetzt hatte. Es bleibt abzuwarten, ob sich Fantic mit den in Europa produzierten Mittelklassemaschinen gegen die chinesische Invasion behaupten kann. Mit Sicherheit ist das Know-how für Motorenentwicklung und –produktion, basierend auf Prozessen von Yamaha, auch für den einen oder anderen wichtigen Player in Europa interessant, der momentan noch in Fernost produzieren lässt. Kurze Transportwege mit direkter Kommunikation und einer weniger fatalen CO₂-Bilanz könnten in Zukunft den Standort Europa wiederbeleben.
Elektromotorräder? Gemach!
Die Invasion der Elektromotorräder blieb in Mailand aus, wohl auch, weil die Industrie noch keine überzeugende Lösung für die Gleichung mit 3 Unbekannten bestehend aus Reichweite, Gewicht und Preis gefunden hat. Dennoch gab es in fast jeder Halle Lösungen für die urbane Elektromobilität von mehr oder weniger bekannten Herstellern zu sehen. Zahlreiche Studien und Prototypen unter anderem von Kymco, CFMoto, Horwin, MV Agusta, QJ oder Yadea in Form von Scootern räkelten sich im Scheinwerferlicht der Messe, die meisten ohne konkrete technische Daten oder Liefertermine.
Zwei Kawasaki EV-Modelle wurden auf der EICMA 2022 vorgestellt Überraschend das Fernbleiben von Stark aus Barcelona: Die Firma des schwedischen Unternehmers Anton Wass (ehemals 24MX) hatte im Sommer den Elektrocrosser Varg mit rund 80 PS vorgestellt und großartige Ankündigungen zu Verkaufszahlen und Produktionszielen gemacht, blieb aber bis heute Taten schuldig. Der Produktionsstart ist um mehrere Monate verschoben worden, als Grund wurden Probleme mit der „Supply-Chain“ vorgegeben. Hervorzuheben wären unter den Elektromotorrädern zwei Vorschläge von Kawasaki im Fahrwerk der 300-ccm-Klasse im Stil der „Z“- und „Ninja“-Modelle, wahrscheinlich mit 11 kW für die Führerscheinkategorie A1. Oder auch das bereits präsentierte ADV-Bike „Experia“ von Energica.
BMW und Ducati leben im Elfenbeinturm mit hochpreisigen Premiumprodukten, dazu gehören auch noch Harley und Triumph (letztere immerhin präsent auf der EICMA) mit KTM, vielleicht ein paar Etagen tiefer. Die chinesischen Hersteller werden versuchen, Brücken zum Turm schlagen und ihn zu entern, Benda mit dem 500-ccm-Vierzylinder V-Motor und MBP mit dem 1.000-ccm-V2 sind die ersten Vorboten der neuen Offensive …
Die EICMA ist zurück mit bekannter Power und jungem Publikum
Die Besucherzahlen lagen in diesem Jahr 38 % über denen der coronageschwächten Ausgabe von 2021 Welche Eindrücke bleiben ansonsten von der EICMA 2022? Bemerkenswert war im Vergleich zu den Vorjahren die Präsenz von jungen Leuten, an den Publikumstagen fühlte man sich fast wie auf der legendären Motor-Show von Bologna in den neunziger Jahren, die auch wegen der attraktiven Hostessen von Jugendlichen geflutet wurde. Die werden übrigens auf der EICMA, vielleicht im Zuge der „Political correctness“-Strategie der Formel 1, die inzwischen ohne „Grid Girls“ auskommt, immer weniger, was für ein effizientes Arbeiten der Fachbesucher nicht unbedingt schädlich ist …
Die Besucherzahlen lagen in diesem Jahr 38 % über denen der coronageschwächten Ausgabe von 2021, d. h. knapp unter 500.000 und damit noch weit entfernt von den rund 800.000 im Jahr 2019. 1.370 Marken präsentierten ihre Produkte in sechs Ausstellungshallen, für 2023 steht der Termin schon fest: 07.–12. November.