Selten war ich auf die Präsentation eines neuen Motorrades ähnlich gespannt, wie auf die erste Fahrmöglichkeit mit der neuen Niken von Yamaha. Kein Wunder, denn seit dem ersten Auftritt auf der EICMA in Mailand im vergangenen Spätherbst erhitzt das skurrile Dreirad die Gemüter in vielerlei Hinsicht. Die Vorurteile sind groß, sehr groß sogar. Und ich geb's ja zu, auch ich war äußerst skeptisch, ob das erste in Serie produzierte Motorrad mit zwei Vorderrädern und spezieller Neigetechnik den hohen Erwartungen gerecht werden würde. Doch jetzt, nach rund 280 Kilometern Testfahrt im Gebiet der Hohen Tauern in Österreich, bin ich überzeugt: Mit der Niken hat Yamaha etwas Revolutionäres auf die Räder gestellt.
Gut, dass wir bereits am Vortag frühzeitig nach Kitzbühel angereist sind. Das gibt uns Zeit, die in der Hotelhalle ausgestellte Niken etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Übrigens: Niken (sprich „Naiken”) ist japanisch und bedeutet zwei (Ni) Schwerter (Ken), als Symbol für die beiden Vorderräder, die ebenso präzise und scharf geführt werden wie einst die asiatischen Samurai ihre Klingen. Nach einer überdurchschnittlich langen Projektierungsphase investierten die Yamaha- Ingenieure vier weitere Jahre, um die Niken zur heutigen Serienreife zu entwickeln.
Der kompakte Reihendreier aus der MT-09 drückt 115 PS und 87,5 Nm auf die Kurbelwelle.
Alter Bekannter, Reihendreizylinder
Üblicherweise steht bei der Präsentation eines neuen Motorrades der Antrieb im Mittelpunkt des Interesses. Nicht so bei der Niken. Der kompakte Reihendreizylinder ist ein alter Bekannter und weitgehend identisch mit dem CP-3-Aggregat der Yamaha-Modelle MT-09, XSR 900 und Tracer 900, die wir mehrfach detailliert vorgestellt haben. Mehr Schwungmasse an der Kurbelwelle und eine kürzere Endübersetzung sollen dem höheren Fahrzeuggewicht von 263 Kilogramm (fahrbereit) gerecht werden. Sowohl die Leistung von 115 PS als auch das maximale Drehmoment von 87,5 Newtonmetern bleiben unverändert.
Einzigartige LMW-Technologie mit Parallelogramm-Konstruktion und beidseitig doppelt geführten Gabelholmen.
Einzigartige Aufhängung & Neigetechnik
Uns interessiert jedoch heute vor allem die einzigartige Aufhängung und Neigetechnik, die Yamaha kurz als LMW-Technologie (Leaning Multi Wheel) bezeichnet. Dabei macht eine aufwendige Parallelogramm-Konstruktion Schräglagen überhaupt erst möglich. Um verwindungssteife Radführungen zu gewährleisten (die Radachsen sind nur einseitig befestigt), hat Yamaha in Zusammenarbeit mit KYB eine spezielle Aufhängung mit beidseitig doppelt geführten Gabelholmen entwickelt. Während die beiden hinteren, voll einstellbaren USD-Holmen (43 mm ø) die Feder- und Dämpfungsarbeit übernehmen, sind die beiden vorderen Gabelholme (41 mm ø) ausschließlich für die Führung und Stabilität zuständig.
Drei Räder für ein Halleluja!
Komplexe Entwicklungsarbeit
Ein weiteres wichtiges Konstruktionsmerkmal ist die sogenannte Ackermann-Lenkung, die souveräne Kurvenfahrten in Schräglage überhaupt erst bewerkstelligen lässt. Weil das kurveninnere Rad einen kürzeren Weg zurücklegt als das kurvenäußere, muss letzteres weniger stark einlenken. Die Ackermann-Lenkgeometrie basiert auf versetzten Lenkhebeln, die nicht parallel zueinander stehen, was bewirkt, dass die Radachsen lediglich geradeaus in einer Flucht liegen. Bei Kurvenfahrt sind die beiden Räder in unterschiedlichen Winkeln eingelenkt, wobei die beiden Radachsen immer zum Kurvenmittelpunkt zeigen. Die ganze Konstruktion ist sehr komplex und war für die Ingenieure bei der Entwicklung der Niken die mit Abstand größte Herausforderung.
Konstruktion fällt ins Gewicht
Zwei Vorderräder, zwei Gabeln, Neigetechnik und Lenkgeometrie – die aufwendige Konstruktion fällt ins Gewicht. 263 Kilogramm stemmt die Niken auf die Waage – beachtliche 48 Kilogramm mehr als beispielsweise die seelenverwandte Tracer 900. Um trotz diesem, vor allem im Frontbereich anfallenden, Mehrgewicht eine ausgewogene Gewichtsverteilung von 50 : 50 Prozent (mit 75 kg schwerem Fahrer) zu realisieren, positionierten die Ingenieure den Lenker weit hinter dem Lenkkopf. Auch die Sitzposition wurde um 50 Millimeter nach hinten versetzt.
Motorräder: Yamaha Niken, Vergleich: Triumph Speedmaster vs. Honda Gold Wing GL1800, Honda CB300R, Royal Enfield Himalayan, Iron 1200 & Forty-Eight Special
Touren: 2.500 km Kurvenspaß: Alpentour, Odenwald, Reisetagebuch: Jakobsweg, Südost-Schweden, Portugal
Preis: 5,90 €
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Auf dem Motorrad sitzend, wirkt die bullige Front mit den beidseitigen „Hamsterbacken“-Verkleidungen noch beeindruckender. Man thront zwar weiter hinten und 30 Millimeter tiefer als auf der Tracer, doch nicht zuletzt auch aufgrund des breiteren Sattels und der weiter hinten positionierten Fußrasten ergibt sich daraus eine äußerst komfortable, langstreckentaugliche Sitzposition. Der breite Lenker (885 mm) liegt gut in den Händen, die Bedienelemente sind ergonomisch richtig positioniert und die von der YZF-R1 übernommenen Rückspiegel gewährleisten gute Sicht auf den rückwärtigen Verkehr. Und als es dann endlich losgeht, überrascht die Niken durch den geringen Kraftaufwand, um sie vom Seitenständer in die senkrechte Fahrposition zu bringen.
Beeindruckendes Handling
Bereits auf den ersten Metern beeindruckt sie erneut, und zwar mit agilem Handling. Alles ist vertraut und funktioniert gleichermaßen einfach wie bei einem konventionellen Motorrad. Die beiden lediglich 15 Zoll großen Vorderräder und 110 Millimeter Federweg bügeln Unebenheiten souverän weg, der Geradeauslauf ist tadellos. Einzig im Innerortsverkehr, bei Tempi unter 40 km/h, macht sich die schwere Front mit der über Umlenkhebel geführten Lenkung durch ein etwas kippeliges Fahrverhalten bemerkbar. Doch je kurviger die Strecke und je höher das Tempo, desto größer wird das Vertrauen in die Front. Von einem Vorderrad überfahrene Unebenheiten sind kaum spürbar. Das System bügelt alles perfekt aus. Schläge vom Hinterrad dringen dagegen deutlicher zum Fahrer durch – trotz komfortabler Abstimmung.
Übersichtliches LCD-Cockpit von der MT-10
45 Grad – „Angstnippel” malträtieren den Asphalt
Mit zunehmendem Vertrauen steigen Begeisterung und Fahrfreude. Auf der kurvenreichen Strecke hinauf zum Großglockner wird abgewinkelt, bis die „Angstnippel“ der Fußrasten den Asphalt malträtieren, was gemäß Yamaha einer Schräglage von 45 Grad entspricht. Der Grip der beiden Vorderräder scheint grenzenlos. Und wenn die Haftung des einen Rades kurzzeitig mangelhaft ist, hält das andere die Front weiter sauber auf Kurs. Solchermaßen sportlich unterwegs gilt die Aufmerksamkeit in Schräglage fast ausschließlich dem Hinterrad. Beim Beschleunigen aus der Kurve ringt der 190 Millimeter breite 17-Zöller immer öfter um Grip, wobei jedoch die in drei Stufen einstellbare Traktionskontrolle das allfällig ausbrechende Heck jeweils souverän wieder einfängt.
Die bullige Front mit den beidseitigen „Hamsterbacken”-Verkleidungen
Innovation & mehr Sicherheit
Zwei Vorderräder bieten eine doppelt so große Aufstandsfläche wie nur eines. Sie ermöglichen dadurch eine erstaunliche Bremsperformance. Allerdings erfordern die beiden Vierkolbenbremsen mit 265,5-mm-Scheiben dazu starken Zug am einstellbaren Bremshebel. Bremsen in Schräglage beeinträchtigt die Linienwahl kaum und auch ein ansonsten oft übliches Aufstellmoment gibt es kaum. Die Yamaha Niken fasziniert nicht nur mit einzigartiger Technik, sie begeistert auch mit absolut vertrauenerweckender Fahrdynamik. Für 14.995,-- Euro bekommen Technikliebhaber einzigartige Innovationen, ein beeindruckendes Fahrerlebnis, ein großes Plus in Sachen Sicherheit und damit unbeschwerten Fahrspaß pur. Und für Aufsehen und anregende Gespräche sorgt die Niken immer und überall – garantiert.