Die Frage nach dem Fabrikat wird von den selbst ernannten Experten unter den Passanten unterschiedlich beantwortet. Nur wenige tippen auf ihren Urvater, die Interceptor aus dem Jahre 1967. Viele vermuten stattdessen, vor einer 70er-Jahre-Triumph zu stehen. Dass die Maschine „schön restauriert“ wurde, sind sich hingegen alle einig. Auf meiner 1.000-Kilometer-Wochenendtour bin ich indes froh, nicht auf einem 50 Jahre alten Engländer zu sitzen. Zu gut funktioniert die moderne Kombination aus Kennfeldzündung und Einspritzung des 650er Twins. Auch die Ölflecken, mit denen britische Twins gern ihren Stellplatz markierten, erspart uns die neue Royal Enfield. Preislich stellt sie mit 6.519,-- Euro ohnehin eine Alternative zum restaurierten Oldtimer dar. Unsere gezeigte Farbvariante mit verchromtem Tank kostet 500,-- Euro Aufpreis...
Uneingeschränkt alltagstauglich
Auf besagtem Wochenendtrip gibt sich die Interceptor unproblematisch. Klaglos nimmt ihre durchgehende Sitzbank meine große Hecktasche auf. An den Rohren von Soziushaltebügel und -fußrasten lässt sie sich sicher verzurren. Alternativ bietet Royal Enfield Satteltaschen für 179,-- Euro an. Deren Haltebügelsatz reißt mit 56,-- Euro ebenfalls keine Löcher in die Haushaltskasse.
Um mehr Zeit für mein Zielgebiet zu haben, bringe ich die ersten Kilometer des Trips auf der Autobahn hinter mich und bin erstaunt: 170 km/h läuft die unverkleidete 650er bei Bedarf und hält dabei stabil die Spur. Selbst mit hohem Tankrucksack, breiter Hecktasche und großem Fahrer. Eine Reisegeschwindigkeit von 140 Sachen ist damit jederzeit drin und die leidige Anfangsetappe schnell vorüber. Nicht einmal beim Verbrauch nimmt der Twin mir das Tempo übel: 4,8 Liter tanke ich nach 100 Autobahnkilometern. Auf der Landstraße bringe ich maximal 4,2 Liter durch die Drosselklappen, auch wenn ich den kleinen Motor gelegentlich auswringe.
Das macht Laune
Obwohl ich die meiste Zeit bei gemütlichen 2.500 Touren durch die Lande cruise und dem beruhigenden Beat des Zweizylinders lausche, scheut er hohe Drehzahlen nicht. Wird der Streckenverlauf kurvig, schalte ich eifrig im leichtgängigen Getriebe und orgle einzelne Gänge bis zur Nenndrehzahl von 7.100 U/min hoch. Dank überschaubarer Leistung von 47 PS ist das sogar auf öffentlichen Straßen möglich. Breit ist das nutzbare Drehzahlband und sportlich wird dann der Sound des so schmeichelhaften Twins, der mit hervorragender Laufkultur glänzen kann. Beinahe sportlich wird auch der Fahrstil, mit dem sich das klassisch anmutende Bike bewegen lässt. Sein Fahrwerk ist der Leistung gewachsen – da sollte man sich von den simpel wirkenden Komponenten nicht täuschen lassen. Kein Wunder, hatten bei der Entwicklung doch die Spezialisten von Harris Performance ihre Finger im Spiel. Seit 2015 gehört die englische Rahmenschmiede mit ihrer beachtlichen Rennhistorie zu Royal Enfield und mischte bei der Entwicklung der Interceptor kräftig mit. Die Abstimmung des Chassis gefällt, ist komfortabel, auch auf schlechtem Belag, aber ausreichend straff und erstaunlich handlich. Anteil an der Agilität haben die schmalen Reifendimensionen. Mit 130 Millimetern am Heck und einem 100 mm breiten Vorderreifen genügen bereits leichte Impulse am breiten Lenker, um die Royal Enfield in Schräglage zu versetzen. Um ihn zu erreichen, muss der Fahrer sich allerdings strecken. Selbst mit 1,86 m Körpergröße rücke ich auf der Sitzbank weit nach vorn. Schmal wird hier das straffe Polster, und nach rund zwei Stunden beginnt das Sitzfleisch, zu leiden. Interessanterweise ist das Schwestermodell Continental GT mit ihrem Stummellenker sogar bequemer. Dessen Lenkerhälften recken sich näher und tiefer dem Fahrer entgegen, was zu einer eher liegenden Sitzposition führt. Der Allerwerteste rückt dadurch weiter nach hinten. Vom Café Racer scheint auch die recht sportliche Position der Fußrasten übernommen – aber zurück zur Interceptor mit ihrem Rohrlenker. Er entlastet Hände und Handgelenke und lässt mich angenehm aufrecht sitzen. Für meine bepackte Tour ins Grüne ist mir das sehr recht. Auch, dass Royal Enfield nicht an den Bremsen sparte: Stahlflexleitungen ab Werk sind in dieser Preisklasse ein Wort. An Druckpunkt und Dosierbarkeit gibt es nichts auszusetzen.
Und das Zweikreis-ABS von Bosch macht einen hervorragenden Job, verzögert bei Bedarf kräftig und sanft regelnd. Groß genug ist die 320-mm-Einzelscheibe am Vorderrad dimensioniert. Eine zweite habe ich nicht vermisst. Mit der hinteren Bremse lässt sie sich wirkungsvoll unterstützen, auch wenn dafür der Fußhebel weit durchgetreten werden will.
Klassisch bis ins Detail
Beim Blick auf die übrige Ausstattung ist die Royal Enfield ganz klassisch unterwegs. Keine Fahrmodi, keine Griffheizung, keine LED-Beleuchtung, dafür zwei hübsche analoge Rundinstrumente mit den nötigsten Kontrollleuchten und ein Hauptständer. Zum Oldtimer-Image passt das gut. Eine farbenfrohe Warnlampe für die Reserve würde ich mir trotzdem wünschen. Verträumt über Land schwingend übersehe ich um ein Haar, dass der letzte Balken der digitalen Tankanzeige irgendwann zu blinken beginnt. Bei Kilometer 216 rette ich mich an die nächste Zapfsäule, um dort festzustellen, dass im Tank noch Sprit für weitere 80 Kilometer schwappen. 13,7 Liter fasst er maximal, nur zehn passen rein. Beschwere ich mich gerade, dass ich nicht schieben musste?
Charme, der süchtig macht
Es bleibt tatsächlich der einzige Schreckmoment des Wochenendes. Eintausend Kilometer ohne Aufregung, ohne Pannen und ohne Zeitdruck. Kein anderes Motorrad als die schmeichelhafte Interceptor 650 hätte ich mir für diesen Trip wünschen können. Am Sonntag geht bereits die Sonne unter, als ich meine Motorradstiefel wieder unter den heimischen Terrassentisch strecke. Spontan greife ich zum Telefon und rufe einen alten Freund am anderen Ende der Republik an: „Lange nicht gesehen. Kann ich nächstes Wochenende zu Besuch kommen?“ Eine Woche lang habe ich die Royal Enfield Interceptor noch...