Die Ninja H2 SX SE ist ein reinrassiger Sporttourer. Der einzige mit Kompressor-Power und der einzige, der 300 km/h schnell rennt – mit Koffer und Passagier!
Zugegeben, komplett ausgelotet haben wir den Top-Speed zu zweit zwar nicht, doch nach unserer zweitägigen Testfahrt rund um die portugiesische Metropole Lissabon mit zusätzlichen Beschleunigungsmöglichkeiten auf der Rennstrecke von Estoril zweifeln wir nicht an den Aussagen eines Kawasaki-Mitarbeiters. Die neue Kawasaki H2 SX SE kann jedoch nicht nur schnell und stark, sondern auch lammfromm, gemütlich und komfortabel.
Vorurteile hatte ich schon, aber das ist ja auch kein Wunder nach den Testfahrten mit der ersten H2 vor drei Jahren. Ruppiges Ansprechverhalten, starke Lastwechsel – ein echtes Biest, das eigentlich nur einen Fahrstil kannte: volle Kanne. Ganz zu schweigen von der noch radikaleren und nur auf Rennstrecken zugelassenen 300-PS-Rakete H2R. Und nun hängt Kawasaki da einfach zwei Koffer dran und will uns das als Sporttourer verkaufen? Keineswegs – die neue Ninja H2 SX SE ist eine komplette Neuentwicklung oder genauer gesagt eine äußerst umfassende Weiterentwicklung.
Antriebsseitig ist nichts mehr, wie es war
Neue Kurbelwelle, neue Kolben, neue Pleuel, neuer Zylinderkopf, neues Turbinenrad (Impeller), neuer Auspuff, höhere Verdichtung, neue Getriebeabstufung – antriebsseitig ist eigentlich so gut wie gar nichts mehr, wie es war. Bis auf die maximale Leistung von 200 PS, unter Einwirkung der Ram-Air-Luftzufuhr sollen es sogar 210 PS sein. Und die drückt der 998 Kubikzentimeter große Reihenvierer wie bei der H2 bei 11.000 Umdrehungen ab. Das maximale Drehmoment von 137,3 Nm ist sogar geringfügig höher und wird nun 500 U/min früher bei 9.500 U/min erreicht. Auch fahrwerksseitig ist nahezu alles neu. Weil die H2 SX für zwei Personen und Koffer ausgelegt ist – die H2 ist ein Einsitzer –, hat Kawasaki einen komplett neuen Rahmen entwickelt. Die konzeptionell sehr ähnliche Stahlrohrkonstruktion ist insbesondere im Heckbereich stabiler, der Radstand ist länger und die Geometrie auf die tourenspezifischen Bedürfnisse ausgelegt. Die beiden Federelemente – vorne eine Upside-down-Gabel, hinten ein zentrales Monofederbein – sind in allen Parametern einstellbar, die Federvorspannung hinten einfach ohne Werkzeug am gut zugänglichen Handrad. Ein semiaktives Fahrwerk kann die H2 SX zwar nicht bieten, doch ansonsten ist das komplette Elektronik-Package an Bord: drei Leistungsmodi, einstellbares Motorbremsmoment, Kurven-ABS, dreistufige, schräglagentaugliche Traktionskontrolle und Tempomat. Das alles gibt es für 18.995 Euro. Wer weitere 3.000 Euro über den Tresen schiebt, bekommt mit der von uns gefahrenen Version SE (Special Edition) zudem die Launch Control für optimierte Powersprints, den Quickshifter zum kupplungslosen Rauf- und Runterschalten, Stahlflex-Bremsleitungen, LED-Kurvenlicht, ein farbiges TFT-Cockpit und eine hochwertigere Lackierung. Für das in Fahrzeugfarbe gehaltene Kofferset sind inklusive Halterung und Einschlosssystem bei beiden Versionen weitere 844 Euro fällig.
Aufgesessen. Aha, kein Tourer, aber auch kein Sportler – ein Sporttourer eben. Der Lenker ist tiefer positioniert als erwartet und erfordert eine Sitzposition mit ziemlich stark nach vorne geneigtem Oberkörper. Nicht unbequem, aber eher auf der sportlichen Seite. Die Frontscheibe ist relativ hoch und steil angestellt, was einen guten Windschutz vermuten lässt. Aufgrund des enormen Leistungspotenzials mit hoher Endgeschwindigkeit verzichtet Kawasaki bewusst auf eine Verstellbarkeit. Noch kurz den Brems- und Kupplungshebel einstellen, die Grundeinstellungen der diversen Assistenzsysteme und Modi checken – es kann losgehen. „Achtung neue Reifen“, warnt der Chef-Mechaniker. Und ich wundere mich, weil das Bike noch deutlich weniger als 1.000 Kilometer auf der Uhr hat. Neue Reifen auf einer zwangsbeatmeten 200-PS-Granate – wenn das nur gut geht. Nun, ich muss ja nicht gleich auf den ersten Metern den Gashahn voll aufreißen. Die Gruppe zieht jedoch gleich zügig los und die Distanz zum Vordermann wird groß und größer. Einmal kurz die rechte Hand gedreht und ich bin wieder dran, ohne runterzuschalten. Das Ding geht wirklich ab wie Pressluft. Apropos Pressluft: Das Schaufelrad des Kompressors macht mit 9,2-facher Kurbelwellenumdrehung ab Standgas mächtig Druck. Im maximalen Leistungsbereich bei 11.000 U/min rotiert der Impeller also mit über 100.000 U/min, akustisch untermalt von einem eigenartigen Surren oder Zwitschern.
Überraschende Leichtigkeit trotz 260 Kilogramm
Über die vierspurige Autobahn geht's im morgendlichen Pendlerverkehr quer durch Lissabon. Wir versuchen, den routinierten Locals auf ihren flinken Maxi-Scootern zu folgen und quetschen uns an den im Schritttempo dahinschleichenden Kolonnen von Bürgerkäfigen vorbei. Mit überraschender Leichtigkeit lässt sich die 260 Kilogramm schwere SX dirigieren, dosiert abbremsen und wieder beschleunigen. Auf der vor 20 Jahren eröffneten, über 17 Kilometer langen und nach dem portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama benannten Brücke über den hier in den Atlantik mündenden Fluss Tejo herrscht zu dieser Uhrzeit kaum Verkehr, dafür aber starker Seitenwind. Die SX steckt das locker weg, liegt satt und stabil wie ein Brett und beim Blick auf den Tacho wird mir bewusst, dass ich erneut wesentlich schneller unterwegs bin als gefühlt – und erlaubt. Auf der A12 fahren wir Richtung Süden. Und weil der Guide erneut ein flottes Tempo anschlägt und die Gruppe bereits wieder zu entschwinden droht, steppe ich mit dem Quickshifter kurz zwei Gänge runter in den Vierten, spanne den Gashahn auf Anschlag und fliege den anderen hinterher. Es ist wirklich unglaublich, wie stabil und sicher die SX selbst im Hochgeschwindigkeitsbereich auf der Straße liegt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in so einem Tempobereich ähnlich entspannt gefahren zu sein. Das ändert sich, als wir bei Outão westwärts auf die kurvenreiche Bergstraße entlang der Küste abbiegen. Je enger die Radien, desto mehr Druck am Lenker. Doch für ein Bike dieses Kalibers schlägt sich die SX auch hier gut.
Weil ich noch die diversen Modi und Assistenzen durchchecken möchte, mache ich mich am Nachmittag ohne Guide, aber mit Navi alleine auf den Rückweg. Die stärkere Motorbremse ist aufgrund des harten Einsatzes ebenso nicht mein Ding wie die beiden weiteren Powermodi, welche die maximale Leistung um 25 % (Middle), respektive 50 % (Low) reduzieren. Die SX ist im höchsten Leistungsmodus (Full) dermaßen gut kontrollierbar, dass sich die beiden anderen höchstens bei schlechter Witterung aufdrängen. In den Außenquartieren Lissabons herrscht starker Feierabendverkehr. Der Straßenzustand ist teilweise ruppig, zügiges Vorankommen schwierig. Weder zu sportlich noch zu straff abgestimmt, bügelt das Fahrwerk der SX jedoch auch hier weitgehend alles souverän weg. Permanent beschleunigen und wieder bremsen, und das bei geringer Geschwindigkeit und schlechten Straßen – Unterarme und Handgelenke müssen vieles wegstecken. Für diesen letzten Abschnitt hätte ich mir einen höher positionierten Lenker und damit eine aufrechtere, komfortablere Sitzposition gewünscht.
Potenzialausschöpfung auf der Rennstrecke
Um das volle Potenzial der Kawasaki H2 SX SE auszuloten, geht's am zweiten Fahrtag auf die nahe gelegene Rennstrecke von Estoril – ohne Koffer. In Einzelabfertigung absolviert jeder Beschleunigungen auf der Startgeraden ohne und mit Launch Control. Allerdings braucht es mit dieser Granate schon ziemlich Mumm, den Gashahn einfach voll auf Anschlag stehen zu lassen und die Gänge durchzushiften. Es ist wirklich unglaublich, wie das Biest wie aus der Kanone geschossen abgeht und selbst im Sechsten noch voll anreißt. Dass ich den Top-Speed von 300 km/h nicht ganz erreicht habe, mag daran liegen, dass ich am Ende der Geraden zu früh in die Eisen gestiegen bin. Der Hinterreifen hatte bei diesen Exzessen jedenfalls ganz schön gelitten und mir fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, warum am ersten Fahrtag auf allen Bikes neue Gummis aufgezogen waren.