Motorradfahrer werden hellhörig wenn die Sprache auf sagenhafte Sachen wie Turbo, Kompressor oder Sechszylinder kommt. Stammtischgespräche über legendäre Zweitakter mit 500 Kubik oder zwangsbeatmete Vierzylinder machen die Runde. Die Attribute für solche Konzepte reichen von unfahrbar über potthässlich bis hin zu unbezahlbar. Einige schafften es (leider) nicht über ein Prototypenstadium hinaus zu kommen. Aber eines haben all diese Legenden gemein, sie faszinieren uns und sind die Highlights am Motorradhimmel.
2010 hörte man von einer „neuen“ Horex
Als 2010 die ersten Nachrichten vom Wiederauferstehen von Horex durchsickerten, sorgten diese für einigen Wirbel in der Zweiradwelt. Von sechs Zylindern war die Rede, von Kompressoraufladung, von 200 PS und und und. Die sechs Zylinder sind inzwischen Realität geworden, die Druckbeatmung wurde dagegen auf Eis gelegt. Zu aufwändig ist das Motorenkonzept jetzt schon, denn es handelt sich um einen im Motorradbau einmaligen VR-Motor. Dieser leistet auch ohne Kompressor satte 161 PS.
Downloads & Produkte zum Thema
Die komplette Ausgabe 07/2014 von Motorrad & Reisen inklusive Tourdaten.
Inhalt:
- PDF - Ausgabe
- Garmin
- TomTom
- GPX
- Google Earth
Zuletzt aktualisiert: 26.06.2014
Motorräder: Horex VR6 Roadster
Reisen: Weserbergland - Porta Westfalica, Baltikum, Oberitalienische Seen, Nord-Thüringer-Bergland
Es ist kühl , als vor der Redaktion das Gespann hält. Verpackt in einem stylischen Trailer wartet die Horex VR6 Roadster darauf, endlich rausgelassen zu werden. Mit ein, zwei Handgriffen ist das Gerät befreit und Ralf, der Horex-Mann, drückt den Starter – etwas länger als allgemein üblich. Mit einem heiseren Grummeln erwachen die sechs Zylinder zum Leben. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, direkt ins Großhirn. Klick! Eingerastet. Wann kann ich los?
Wenn man dann am Kabel zupft, gehen mir die Vergleiche aus - das ist doch mal ein fetter Seriensound der seines Gleichen sucht. Ermöglicht wird das Klangerlebnis durch das im Motorradbau einzigartige Motorkonzept: Horex hat es geschafft, einen VR6 Motor mit drei obenliegenden Nockenwellen, in einen wunderschönen Rahmen zu bauen. Wie viel technische Raffinesse dieses Antriebsaggregat in sich vereint, ist schon beeindruckend.
Der VR 6 ist fast so schmal wie ein herkömmlicher Reihenmotor
Der VR-Motor besitzt wie ein V-Motor zwei Zylinderbänke. Diese beiden Zylinderreihen stehen bei dem Horextriebwerk jedoch sehr nah beieinander – mit einem Winkel von nur 15°. Dadurch baut der Motor fast so schmal auf wie ein herkömmlicher Reihenmotor. Vereinfacht gesagt verbindet ein VR-Motor die Vorteile von V- und Reihenmotoren (daher „VR“).
Zunächst fällt mir auf, dass ich etwas höher Platz nehme, nicht unangenehm, aber kurzbeinige Mitbürger stehen da schon auf den Zehenspitzen. 20 Milimeter kann die Sitzhöhe ab Werk auf Wunsch verringert werden. Stehen will ich aber wirklich nicht, also raste ich den ersten der sechs Gänge ein. Die Kupplung braucht zwar eine feste Hand, lässt sich aber fein dosieren. Der Motor nimmt sauber Gas an und ich bin am Ortsausgang angekommen... Unten herum wirkt das Triebwerk noch etwas verhalten, der Sound stimmt aber schon mal. Im mittleren Drehzahlbereich schieben die sechs Zylinder immer mehr an, um dann ab 6.000 Umdrehungen die zweite Stufe zu zünden.
Die Horex geht ab wie der Teufel!
Aus einem heiseren Röcheln wird ein sattes Trompeten! Ich werkel mich durch das präzise Getriebe, das vor allem durch kurze Schaltwege positiv auffällt. Was mich jetzt aber wirklich verblüfft, ist die sagenhafte Leichtigkeit, mit der die Horex um die Ecken wedelt. Die hochwertigen und voll einstellbaren Fahrwerkskomponenten von WP (vorne) und Sachs (hinten) verrichten ihren Dienst á la bonne heure! Ich fühle mich eher wie auf einer leichten 600er als auf einer immerhin 249 Kilogramm schweren 1200er. Die Reifen werden noch ein wenig warm gefahren und dann stürze ich mich ins Harzer Kurvengeschlängel.
Die Fuhre ist schön straff aber nicht unkomfortabel abgestimmt und ich kann vollkommen saubere Radien durch Kurven jedweder Art ziehen. Das macht richtig Spaß!
Beeindruckend ist auch die verbaute Anlage zur Energieumwandlung, gemeinhin auch als Bremse bezeichnet. Brembo liefert die radialen 4-Kolben-Sättel, die in 320 mm Wavescheiben von Braking beißen. Und das tun sie vollkommen fadingfrei, mit enormer Verzögerungsleistung und perfektem Druckpunkt – so muss eine Bremse einfach funktionieren! Das serienmäßige Bosch ABS (Typ 9MB) greift bei Bedarf erfreulich spät ein, wenn es denn mal sein muss. So perfekt der Stopper an der Vorderhand funktioniert, so unauffällig präsentiert sich die Bremse am Hinterhuf. Die Bremswirkung hat eher eine unterstützende Funktion und eignet sich ideal, um hier und da sanft die Geschwindigkeit anzupassen. Geführt wird das schöne 6-Zoll breite PVM-Leichtmetallrad von einer richtig schicken Einarmschwinge. Die montierte Reifengröße von 190/55 17 gibt sich sehr handlich. Angetrieben wird der hintere Gummi übrigens durch eine Kette. Allerdings ist diese eher exotisch. Horex bringt hier eine Dichtringkette mit permanenter Graphitschmierung zum Einsatz. Das gefällt mir, denn ich vergesse schnell mal die Kette zu schmieren.
Die intensiven und langen Testrunden offenbaren obendrein eine weitere Stärke der Horex, die ich so allerdings nicht vermutet hätte. Selbst nach einigen Stunden Fahrtzeit tun mir weder der verlängerte Rücken, noch die Handgelenke oder sonstige Körperteile weh. Ein Indiz für eine ausgewogene Ergonomie – Kniewinkel, Lenkerkröpfung, Beinspreizung – kurz: die gesamte Sitzhaltung ist zwar sportlich orientiert aber komfortabel genug für die große Reise. Den Horextechnikern ist dabei eine sehr „runde“ Abstimmung gelungen, denn selbst auf schlechteren Straßen geht der Komfort voll in Ordnung. Unruhe im Fahrwerk kommt übrigens auch durch härtere Schläge auf schlechten Straßen nie auf. Die voll einstellbare Gabel filtert dabei fast alle Unebenheiten sauber weg, das etwas straffer abgestimmte Federbein hinten spricht zwar nicht ganz so fein an, zeigt sich aber ebenfalls komplett in Zug- und Druckstufe einstellbar und verfügt sogar über eine hydraulische Federvorspannung. Dass die Roadster kein Racer ist, dürfte jedem klar sein. Dass aber tatsächlich eine Menge Racer in der Roadster steckt, das hätte ich so nicht vermutet. Die Schräglagenfreiheit ist schon enorm – bis zur Reifenkante der Metzeler Z8 Interact kann man die Horex bewegen, ohne dass Anbauteile über den Asphalt schraddeln. Gehe ich einen kleinen Schritt weiter dienen die Schleifer an den Stiefeln als guter Indikator, dass als nächstes die Rasten Kontakt zur Fahrbahn bekommen. Selbst bei dieser, mittlerweile schon sehr sportlichen Schräglage, zeigt sich das Fahrwerk unbeeindruckt. Nur bei superschnellen Wechselkurven bekomme ich etwas von dem Gewicht der 1200er zu spüren, die Last auf dem Vorderrad ist nicht unerheblich, allerdings bin ich da schon in sehr verschärfter Gangart unterwegs. Allerdings darf man sagen, dass die absolute Domäne der starken Horex das entspannte, zügige Kurvensurfen ist! Es fährt sich wundervoll dahin. Die Maschine aus der Manufaktur in Augsburg fühlt sich beim Fahren erhaben an. Dazu kommt das Gefühl, dass man am nächsten Motorradtreff nicht irgendeiner von vielen ist.
Fazit
Mainstream will und kann die Horex VR6 Roadster nicht. Warum sollte sie auch? So außergewöhnlich wie die Technik, so anders ist auch der Charme den das außergewöhnliche Motorrad mit dem starken Sound versprüht. Hinzu kommen hervorragende Bremsen, der starke aber herzliche Motor mit ordentlich Bumms nach oben raus und das gute Fahrwerk. Die komplette Ausstattung rundet das höchst außergewöhnliche Gesamtbild der Horex ab. Sie will sicher nicht jedem gefallen – sie polarisiert einfach und kommt als ein sehr selbstbewusstes Charaktermotorrad mit einigen technischen Leckereien aus deutschen Landen daher. Obendrein bringt die Horex eine gewisse Exklusivität mit.