Fahrtest: Horex VR6 RAW

Die Horex VR6 Raw ist ein extrem stylisches Bike, dazu bärenstark und sehr hochwertig ausgestattet. Kalt lässt die schwarze Mamba auf zwei Rädern niemanden.
Fahrtest: Horex VR6 RAW
Fahrtest: Horex VR6 RAW
10 Bilder
10.11.2019
| Lesezeit ca. 9 Min.
Frank Luger, Horex
Horex VR6 RAW Fahrbild

Dieses Motorrad sticht so extrem ins Auge wie kaum ein anderes: Matt- und glanzschwarzer Lack verteilen sich auf Karosserie- und Fahrwerksteilen sowie Motor und Auspuffanlage, sodass die wenigen in mattem Alu verbauten Teile stark kontrastieren. Nur ein Chromteil ist zu sehen, nämlich der glänzende Ring um den runden, ansonsten in Schwarz gehaltenen LED-Scheinwerfer.
Horex VR6 RAW Front
Moderne LED-Lichttechnologie für Tagfahrlicht, Abblendlicht und Fernlicht
35.500,-- Euro kostet die Horex VR6 Raw; verglichen mit einer „Classic“ (ab 38.500,-- Euro) oder gar Classic HL (ab 42.500,-- Euro) erscheint das günstig, denn gespart wird an ihr nicht. Sie ist identisch motorisiert wie die traditioneller designten, deshalb vielleicht auch zugänglicher scheinenden, Schwestermodelle. Die Raw weist sechs Zylinder in VR-Anordnung bei gut 1.200 Kubikzenti­metern Hubraum auf, woraus sehr präsente 163 PS bei 9.600 Umdrehungen resultieren. Die Doppelendrohr-Auspuffanlage verheimlicht nicht, welche gewaltigen Kräfte und wie viele Zylinder in diesem sehr schmal bauenden Triebwerk ihr Unwesen treiben. Insbesondere jenseits mittlerer Drehzahlen ist permanent Gänsehaut angesagt.
Horex VR6 RAW Seitenansicht
Ob in der Hochglanz-Variante oder in Matt, die Raw zeigt sich immer in tiefstem Schwarz. Endtöpfe, Spiegel, Lenker, Rahmen und ein Großteil aller Sichtteile sind in „Horex Black Gloss“ oder „Horex Black Matt“ gehalten.
Horex – da war doch mal was, das schiefgegangen ist. Richtig: 2010 offenbarte die von einem Münchener Ingenieur und IT-Spezialisten neu gegründete Horex GmbH ihre Absicht, die 1960 liquidierte Marke Horex wieder zu aktivieren und dazu bis 2012 eine Zwölfhunderter mit VR6-Motor und Kompressor auf den Markt zu bringen. Die Fertigung der technisch abgemagerten VR6 (ohne Kompressor) begann jedoch verspätet, nämlich erst 2013, in Augsburg und endete nach mannigfachen Problemen und knapp 250 gebauten Fahrzeugen bereits am 1. November 2014. Die Insolvenz ist eine erhebliche Hypothek für den einst berühmten, aber im Laufe der Jahrzehnte arg verblassten Namen Horex. Das Ur-Werk stand seit 1923 in Bad Homburg nahe Frankfurt.
Horex VR6 RAW Auspuff
Ein absoluter Hingucker: schwarze Performance Edelstahl-Abgasanlage mit zentraler Katbox-Mittelschalldämpfer-Einheit und zwei Edelstahl-Endschalldämpfern
Karsten Jerschke, Gründer und Eigner der von ihm alleine geleiteten 3C-Carbon Group AG in Landsberg am Lech, ließ sich weder von der Insolvenz noch den sich daraus ergebenden Problemen abschrecken: Im Februar 2015 erhielt der einstige Rad-Leistungssportler mit 100-Stunden-Arbeitswoche den Zuschlag für die Horex-Restmasse und stellte bereits im September desselben Jahres ein technisch und optisch grundlegend überarbeitetes Nachfolgemodell vor, ebenfalls mit VR6-Motor. Dank der Einschaltung von Experten, u. a. von Bosch und Continental, startete die Horex-Produktion im späten Frühjahr 2016 mit einem limitierten Editionsmodell, noch im selben Jahr folgten Kleinserienmodelle.


2018 wurde dann auch die Euro 4-Homo­logation geschafft. Seither sind drei Modelle erhältlich: VR6 Classic, VR6 Classic HL – darunter versteht der Hersteller „Heritage Line“, also die Verwendung stilistischer Elemente aus der Horex-Urzeit – und VR6 Raw. In der deutschen Zulassungsstatistik liegt die Edelmarke noch auf den hinteren Plätzen. Ohnehin ist nicht vorstellbar, dass so edle und damit auch viel Geld kostende Motorräder mit Stückzahl-Kaisern wie Yamaha MT-07 oder Kawasaki Z 650 um die vorderen Plätze rangeln. Wer gut 35.000,-- Euro für sein Motorrad zahlt, will sein eigenes Objekt der Begierde auch nicht „an jeder Ecke“ sehen. Auch wenn die Raw das preiswerteste Modell im Horex-Angebot darstellt, so ist sie gleichwohl keineswegs billig, denn ihre Anmutung und Ausstattung bewegen sich auf höchstem Niveau.
Horex VR6 RAW Fahrbild
Die geringe Baubreite des VR6-Motors lässt nichts vom Vorhandensein der sechs Zylinder erahnen. In Kurven gibt sich die Raw dank guter Austarierung so agil, wie 240 Kilo es im Idealfall zulassen.
Gänzlich anders als 2013 beim Start der VR6-Produktion in der ersten Generation ist die VR6 Raw des Baujahres 2019 technologisch in der Spitzenklasse angekommen: Es gibt Ride-by-Wire, eine dynamische Traktionskontrolle, ABS, LED-Scheinwerfer, Schmiederäder und seit Mai 2019 sogar einen Quickshifter sowie eine automatische Blinkerrückstellung. Es ist also alles an Bord, was auch die renommierten Großserienhersteller bieten. Und noch mehr, nämlich sehr feine Brembo-Bremsen (M50 vorne und P2.34 hinten) und richtig edle Öhlins-Radaufhängungen. In puncto Display zieht die Horex mit den besten bekannten TFT-Displays mindestens gleich; allerdings wählt man in Landsberg eine LED-­Lösung für das 7 Zoll messende Display, das durch extreme Lichtstärke, Echtglas-Oberfläche und eine sehr überlegte und deshalb übersichtliche Gestaltung auf ganzer Linie überzeugt. Auch an Connectivity ist gedacht. Sowohl die bereitstehenden Informationen wie auch die Anzeigegüte sind erste Sahne. Lediglich bei sehr direkter Sonneneinstrahlung ist die Ablesbarkeit eingeschränkt.
Horex VR6 RAW Display
Das 7-Zoll-LED-Display überzeugt mit 1.000 Candela Lichtstärke und einer Echtglasscheibe, die aufwendig mit Optical Bonding gefertigt wird. Außerdem verfügt es über Connectivity-Features (darunter auch GPS-Navigation und volle Mobil­telefon-Connectivity).
Doch schwingen wir uns in den Sattel und fühlen mal, wie sich der VR6-Triebling anfühlt. Die ersten Sekunden nach dem Drücken des Starterknopfs sorgen für Gänsehaut: Wow, was für ein Sound! Akustisch ist die VR6 absolut dominant, selbst wenn der Motor während der Warmlaufphase nur mäßig belastet wird. Selbst im zahmeren der beiden Fahrmodi hängt der VR6 sehr direkt am Gas, ist aber dennoch fein regulierbar. In der unteren Drehzahlhälfte – die maximale Leistung von 163 PS liegt erst bei strammen 9.600 U/min an – gibt er sich verbindlich und kultiviert. Damit lässt sich genussvoll cruisen, ohne sich selbst und auch das Motorrad im Geringsten zu fordern. Das ändert sich, wenn man in die obere Hälfte des nutzbaren Drehzahlbandes vorstößt: Jenseits von Halbgas verwandelt sich die VR6 Raw in eine Art Boden-Boden-Rakete. Dazu brüllt das Triebwerk bei geöffneten Drosselklappen aus vollen Rohren. Der Schub wird, sofern sich der Fahrer traut, jenseits der 7.000 Touren brachial. Die drei Nockenwellen und 18 Ventile sorgen für einen Orkan, der auf Helm und Brust des Fahrers tobt und die Arme, zumindest gefühlt, immer länger werden lässt. Gnade lässt die Technik erst bei 10.300 U/min walten, wenn der Drehzahlbegrenzer weiteren Eskapaden ein Ende bereitet.
Horex VR6 RAW Fahrbild
Gut zu wissen: Jede Horex VR6 – hier eine Classic HL – kann vom Kunden vorab nach seinen persönlichen Wünschen individualisiert und konfiguriert werden.
Jungspunde am schwarzen Lenker einer Horex VR6 Raw sind angesichts der extremen Gewalten, die der Sechszylindermotor freisetzt, schnell überfordert. Denn dieses pechschwarze Ungeheuer birgt die Gefahr, sich bei Überschätzung der eigenen Fähigkeiten schnell um Kopf, Kragen und Führerschein zu fahren.
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Es bedarf also nicht nur einiger Erfahrung auf stark motorisierten Motorrädern, sondern auch einer erheblichen Charakterstärke, um sich nicht als Rowdy auf zwei Rädern zu gerieren. Und es bedarf einiger Kraft im linken Unterarm: Die Kupplung ist nämlich mit Reibscheiben bestückt, die üblicherweise in Racebikes Verwendung finden. Damen werden daran genauso wenig Gefallen finden wie Hänflinge. Glücklicherweise lässt sich die Kupplung einwandfrei dosieren, strapaziert auf längeren Touren aber auch Muskulatur und Sehnen kräftiger Männer. Dieses Kennzeichen aller bisher in Landsberg am Lech gebauten Horex VR6 ist allerdings ein Auslaufmodell: Bereits ab August 2019 wird eine völlig neu entwickelte Kupplung zum Einsatz kommen, die erstens die aufzuwendenden Kräfte um die Hälfte reduzieren und zweitens eine Anti-Hopping-Funktion beinhalten wird. „Damit kommen wir zu Betätigungskräften, die auf dem Niveau ähnlich großvolumiger und ähnlich stark motorisierter Fahrzeuge liegen, wie beispielsweise einer Ducati Diavel“, sagt der Horex-Chef.
Horex VR6 RAW Sitzbank
Die hochwertig verarbeitete, durchgängige Sitzbank wird mit einem Bezug aus Microfaser ausgestattet.

Eine Bremsanlage vom Feinsten

Keinen nennenswerten Kraftaufwand erfordert schon seit Anbeginn die Betätigung der Bremsanlage. Sie gehört in die Kategorie der klassischen Zwei­fingerbremsen, spricht kräftig, aber nicht ultrascharf an und lässt sich perfekt dosieren. Der Fahrer spürt, dass hier echte Premium-Komponenten arbeiten. Einwandfrei verlaufen auch die mechanischen Gangwechsel. Dass der neuerdings verfügbare Quickshifter ebenfalls auf hohem Niveau arbeitet, darf man erwarten; die Testmaschine verfügte noch nicht über dieses Feature. Nicht weniger überzeugend als die Triebwerksqualitäten sind die Fahr­eigenschaften. Klarerweise ist zu spüren, dass es sich bei der Horex VR6 Raw nicht um einen leichten Zweizylinder mit 190 kg handelt, sondern um ein gestandenes Big Bike. Allerdings ein erstaunlich leichtes, denn 240 kg sind nicht viel für eine voll ausgestattete Zwölfhunderter mit sechs Zylindern. Dieses relativ niedrige Gewicht ist allerdings teuer erkauft und will vom Käufer auch gut bezahlt sein, denn dieses Horex-­Modell weist, wie auch alle seine Geschwister, reichlich Karbon auf. Sämtliche Verkleidungsteile bestehen aus CFK, auch wenn man es ihnen als Folge der schwarzen Lackierung nicht unbedingt ansieht. Doch auch viele Anbauteile bestehen aus leichter Kohlefaser, beispielsweise die Lampenmaske, der Kettenschutz oder das komplette Rahmenheck. Hier merkt man, dass die Horex Motorcycles GmbH zur 3C-Carbon-­Gruppe gehört; in puncto CFK-Komponenten macht der Landsberger Firma so leicht niemand etwas vor.
Horex VR6 RAW Vorderrad
Ausgeliefert wird die VR6 RAW mit einer Brembo-High-Performance-Bremsanlage (4-Kolben Brembo M50 Bremssattel vorne und 2-Kolben-Bremssattel hinten) in Verbindung mit Brembo Radial-Bremspumpe und Stahlflexleitungen.
Das Bemühen um ein möglichst niedriges Fahrzeuggewicht wird dem Fahrer unterwegs stets bewusst: Neben der sehr gut gelungenen Fahrwerksabstimmung ist der VR6 Raw eine unerwartete Handlichkeit zu eigen. Es bedarf keiner großen Aktionen am Lenker, um dieses massive Motorrad zum Einlenken zu bringen. Kurven umrundet sie ohne Ruck und Zuck, die Schräglagengrenze liegt hoch. Freilich sind auch die Rasten eher hoch montiert, sodass die Knie spürbar abgewinkelt werden müssen. Das passt grundsätzlich gut zum sportlichen Charakter der Raw. Dieser ist auf schlechten Straßen deutlich spürbar; die Grundabstimmung der Öhlins-Elemente ist auf Fein-Asphalt ausgelegt. Aber von diesem Donnerbolzen wird auch niemand den Fahrkomfort einer BMW GS erwarten. Dass aus der beeindruckenden Motorisierung eine mögliche Höchstgeschwindigkeit von 260 km/h resultiert, verwundert nicht; überprüft haben wir sie im Rahmen unseres 250-Kilometer-Ausflugs nicht. Aber angesichts der nicht vorhandenen Verkleidung ist diese Angabe ohnehin theoretischer Art; mehr als kurze Zeit mal 180 oder 200 km/h will außer Bodybuildern zwecks Halsmuskeltrainings vermutlich kein Mensch auf dem Tacho haben. Sicher ist, dass sich die Horex VR6 Raw nicht mit üblichen Maßstäben messen lässt: Sie ist vor allem emotional fordernder als eigentlich alle anderen Motorräder, ohne deshalb in Fahrt aber böse anstrengend zu sein. Sie ist in ihrer jüngsten Form auf hohem technischem Niveau angesiedelt und spielt unverhohlen mit ihrer Exklusivität, die man sich als Käufer freilich auch leisten können muss. Gut 35.000,-- Euro sind ja nun mal keine Kleinigkeit. Optimistisch darf Horex-Interessenten stimmen, dass es Karsten Jerschke, Chef der 3C-Carbon-Group, mit der Marke Horex durchaus ernst zu meinen scheint: Das ist an den Verbesserungen dieses Jahres (Quickshifter, Blinkerrückstellung, Kupplung) deutlich zu sehen. Und an seinem Zukunftsvorhaben: Er will die Endmontage spätestens im 100. Gründungsjahr der Marke im Jahr 2023 wieder nach Bad Homburg verlagert haben, wo Horex einst seinen Anfang nahm. Am liebsten sähe Jerschke die Manufaktur nahe des dortigen Horex-Museums und des ihm benachbarten, seit 2016 existierenden Flagship-Stores der Marke. Mittlerweile gibt es übrigens einen weiteren in Ingolstadt. Der dritte Shop wird in den nächsten Wochen eröffnet, und zwar in Salzburg. Kein Zweifel: Horex 2.0 soll ein Erfolg werden.
 Pro
  • Motor- & Fahrwerksabstimmung
  • Ausstattung und Verarbeitung
  • Emotionalität & Sound
  • unbändige Kraft
  • LED-Display
 Contra
  • Seitenständer schwierig bedienbar
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Horex VR6 RAW - Baujahr: 2020
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