Hanspeter Küffer
Alessio Barbanti
Dieser neuesten Softail-Version hat Harley-Davidson dermaßen viele Argumente mit auf den Weg gegeben, dass sie ihre Schwestermodelle von Anfang an in den Schatten stellen dürfte. Zum einen stecken in der Sport Glide ja eigentlich zwei Motorräder, denn mit wenigen Handgriffen verwandelt sich der vermeintliche Tourer zum schicken Cruiser. Und egal ob mit oder ohne Koffer und Verkleidung, die Sport Glide sieht immer toll aus und vor allem fährt sie sich auch so. In fahrdynamischer Hinsicht hat sie klar die Nase vorn. Dazu kommt, dass sie mit einem Preis ab 17.995 Euro eine der preiswertesten Softails ist. Lediglich die puristische Street Bob (ab 14.495 Euro) und die Low Rider (ab 16.295 Euro) sind noch günstiger.
145 Newtonmeter und 84 PS sind vollkommen ausreichend
Mit ungewohnt radikalen Maßnahmen hat Harley-Davidson zum letzten Jahresende das Angebot gestrafft. Die bisherige Dyna-Baureihe wurde aus dem Sortiment gestrichen, wobei die drei beliebtesten Modelle in die neue Softail-Familie integriert wurden. Die Konstruktion von acht komplett neuen Modellen war das längste und aufwendigste Entwicklungsprogramm in der 115-jährigen Firmengeschichte. Wie ihre acht Softail-Schwestern verfügt nun auch die Sport Glide über einen neuen Rahmen, in den der ebenfalls neue, drehmomentstarke Milwaukee-Eight-107-Motor eingebettet ist. Die Modelle Fat Bob, Breakout, Heritage Classic und Fat Boy sind zudem wahlweise mit dem noch mächtigeren 114-Kubik-Inch-V2 erhältlich. Auf diesen 1.868 Kubikzentimeter großen Hubraumriesen muss die Sport Glide zwar verzichten, doch das ist nicht wirklich ein Nachteil. 107-Kubik-Inch respektive 1.745 Kubikzentimeter und 84 PS sind ausreichend, zumal die Leistungscharakteristik für die jüngste Softail weiter optimiert wurde.
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Die komplette Ausgabe 85/2018 von Motorrad & Reisen als PDF
Inhalt:
- PDF-e-Paper-Ausgabe - 100 Seiten
Zuletzt aktualisiert: 28.02.2018
Motorräder: Kawasaki Ninja H2 SX SE, KTM Duke 790 und RC 390 R, Harley-Davidson Sport Glide, Ducati Scrambler 1100, Triumph Tiger 800, Africa Twin Adventure Sports, Yamaha MT-09 SP, Honda GL1800 Gold Wing, Honda CB1000R
Touren: Katalonien, Elsass, Weserbergland, Passo Pasubio, Jakobsweg
Mit maximal 145 Newtonmetern Drehmoment bei lediglich 3.250 U/min drückt der 45-Grad-V2 bereits aus dem Drehzahlkeller mächtig ab. Und mit dermaßen satter Power kann auf regennasser Fahrbahn beim abrupten Gasaufreißen aus der Kurve schon mal kurz das Hinterrad wegschmieren, zumal dies weder bei der Sport Glide noch den anderen Softails eine Traktionskontrolle verhindert. Die Seilzug-Kupplung ist weichgängig, die Gänge rasten exakt und relativ geräuscharm ein und die neutrale Stufe kann selbst im Stand mehr oder weniger problemlos eingelegt werden.
Wie die anderen Softails profitiert die Sport Glide von der neuen wesentlich leichteren und stabileren Rahmen- und Fahrwerkkonstruktion. Das unter dem Sitz platzierte Monofederbein in Cantilever-Bauweise vermittelt weiterhin die für diese Baureihe typische Starrrahmen-Optik. Im Gegensatz zu den meisten anderen Softails kann die Federvorspannung bequem per Handrad unterschiedlichen Straßenverhältnissen oder Beladungen angepasst werden. Die vordere, nicht einstellbare Upside-down-Gabel ist identisch mit derjenigen der Fat Bob. Sie ist jedoch um zwei Grad flacher angestellt, was den größeren Nachlauf von 150 Millimetern und damit einen sehr stabilen Geradeauslauf bewirkt.
Kurvenkratzen garantiert
Doch auch in kurvigen Gefilden macht die Sport Glide ihre Sache sehr manierlich, und für eine Harley-Davidson sogar sportlich. Unterstützt vom starken Motorbremsmoment lässt es sich mit rhythmischer Gas-auf-Gas-zu-Steuerung zügiger um Wechselkurven surfen als mit hektischen Bremsmanövern und ruppigen Beschleunigungen. Maßgeblichen Anteil an den vergleichsweise flotten Handlingseigenschaften haben die Reifen, genauer gesagt deren Dimensionen. 130/70-18 vorne und 180/70-16 hinten bewirken ein ausgewogenes Fahrverhalten. Klar schrappen die klappbaren Fußrasten wesentlich früher über den Asphalt als bei anderen Motorrädern mit der Bezeichnung „Sport”, doch im familiären Vergleich erfüllt sie auch diese Disziplin sehr gut. Wer dermaßen zügig um die Ecken wedelt, läuft jedoch Gefahr, die Stiefelabsätze abzuschleifen. Durch die relaxte Sitzposition mit weit nach vorne gereckten Beinen liegen die Füße im steilen Winkel auf den Rasten und die Absätze damit noch tiefer. Da hilft eigentlich nur, den Fuß auf der entsprechenden Seite jeweils kurz anzuheben. Ansonsten sitzt es sich auf der Sport Glide sehr bequem, um nicht zu sagen fürstlich. Die tiefe Kuhle, lediglich 68 Zentimeter über dem Asphalt, ist straff gepolstert. Der breite Lenker liegt gut in den Händen. An die grobschlächtigen und nicht weitenverstellbaren Brems- und Kupplungshebel von Harley-Davidson haben wir uns mittlerweile ebenso gewöhnt wie an die ebenfalls eher für grobe Bauarbeiterhände konzipierten Bedienelemente.
Zeitgemäße Ausstattung mit viel Komfort
Schlüssellose Zündung, USB-Ladeanschluss, LED-Beleuchtung, Alarmanlage – die Ausstattung der Sport Glide entspricht aktuellem Zeitgeist.
Sogar ein mit wenigen Tasten bedienbarer Tempomat ist mit an Bord. Toll gemacht sind die Blinker im klassisch runden Layout, wobei in den hinteren auch das Rücklicht integriert ist – ebenfalls in LED-Technik, versteht sich. Auch die im Look von einst gezeichnete Tachokonsole auf dem Tank vereint Klassik und Moderne. Im diskreten Digitaldisplay im unteren Teil des großen analogen Tachos kann eine Fülle von Informationen dargestellt werden. Und das alles bequem per Taste am linken Lenkergriff.
Das wahrscheinlich größte Highlight ist jedoch die Wandelbarkeit. In der neuen Sport Glide stecken eigentlich zwei Motorräder: In Vollmontur ein „leichter” Tourer, ohne Koffer und Frontverkleidung ein schicker Cruiser. Die den großen Tourern nachempfundene, aber deutlich kleinere und weniger wirksame Mini-Bat-Wing-Verschalung ist mit lediglich zwei Schnellverschlüssen an den Holmen der Gabel befestigt: Verschlüsse lösen, Verschalung abziehen – das Ganze dauert nicht einmal 20 Sekunden. Gleichermaßen einfach ist die Demontage der beiden Seitenkoffer zu bewerkstelligen: Eine Vierteldrehung am Verschluss auf der Kofferinnenseite und schon kann das Behältnis aus den drei Verankerungspunkten abgezogen werden. Die Montage erfolgt gleichermaßen einfach und schnell. In einer bis maximal zwei Minuten ist alles erledigt. Nach Lust und Laune kann man natürlich auch bloß die Verschalung demontieren oder lediglich die Koffer weglassen. Die Sport Glide sieht in jeder möglichen Ausstattungsvariante hübsch aus. Und weil die Koffer im Gegensatz zur Mini-Bat-Wing nicht in der jeweiligen Fahrzeugfarbe lackiert, sondern für alle Versionen in schlichtem Schwarz gehalten sind, setzt sich die Sport Glide in der preiswerteren Farbvariante Vivid Black besonders harmonisch in Szene. Nicht zuletzt auch weil die diversen Chromteile sowie die edlen Mantis-Leichtmetallräder mit den polierten Speichen hier ganz besonders effektvoll zur Geltung kommen.