Motorräder sind Charaktersache. Weil Charaktere bekanntlich höchst unterschiedlich sind, bieten Motorradhersteller zumeist eben nicht nur ein, sondern mehrere Modelle an. Wer sich selbst als den Universalisten auf zwei Rädern sieht, wird eher zu einer Reiseenduro greifen – in absehbarer Zeit will sogar Harley eine bauen. Dicke Tourer für die Gemütlichen unter uns hat die Motor Company dagegen schon längst im Programm, sehnige Sportbikes für die Mitglieder der Schnellfahrer-Fraktion sollen ebenfalls im Laufe der nächsten Jahre mit dem Label „made in Milwaukee“ erhältlich sein.
Die komplette Ausgabe 95/2019 von Motorrad & Reisen als PDF mit folgendem Inhalt:
Motorräder: Triumph Street Triple RS, Touring Modelle 2020: Harley-Davidson, Harley-Davidson Low Rider S, Honda Africa Twin & Africa Twin Adventure Sports
Touren: Eine „Hygge“ Bike-Tour auf Bornholm, Auf der Suche nach dem Gold der Ostsee, Entlang der Westküste der USA: mehr Südkalifornien, Geliebte Achterbahn im Atlantik: Madeira, Roadtrip nach: Dakar
Motorräder: Triumph Street Triple RS, Touring Modelle 2020: Harley-Davidson, Harley-Davidson Low Rider S, Honda Africa Twin & Africa Twin Adventure Sports
Touren: Eine „Hygge“ Bike-Tour auf Bornholm, Auf der Suche nach dem Gold der Ostsee, Entlang der Westküste der USA: Südkalifornien, Geliebte Achterbahn im Atlantik: Madeira, Roadtrip nach: Dakar mehr>
Preis: 5,90 €
Wer es als Hersteller ganz genau nimmt, der untergliedert sogar seine Baureihen gleich mehrfach, um möglichst so gut wie jedermann und jedefrau als Käufer abzuholen. Die wohl größte Kunstfertigkeit auf diesem Gebiet hat Harley-Davidson entwickelt. Kein Wunder, möchte man sagen, handelt es sich bei der Motor Company aus Milwaukee im US-Staat Wisconsin doch um den ältesten, durchgehend Motorräder produzierenden Hersteller der Welt. Ins 119. Jahr gehen die Geschäfte der Amis am nächsten Jahreswechsel. Jetzt bescheren uns die Mannen von Harley-Davidson mit der Low Rider S ein ziemlich böses, ganz sicher aber extrem motorisiertes Macho-Bike. Männer, schaut genau hin!
35 Jahre unverwechselbarer Look
Die Low Rider ist keineswegs nur „irgendein“ Modell im Programm der Amis, sie ist ein besonders markantes Mitglied der Softail-Baureihe. Diese, mit ihrem unverwechselbaren Starrahmen-Look, ist vor 35 Jahren erstmals auf den Markt gebracht worden und nach wie vor eine der beliebtesten Plattformen von Harley-Davidson. Für das Modelljahr 2018 erfolgte eine grundlegende Überarbeitung, wobei die Anmutung des ungefederten Hecks natürlich beibehalten worden ist; acht neue Softails kamen damals auf einen Schlag. Mittlerweile werden nicht nur die Triebwerke des Typs Milwaukee-Eight 107 mit 1.745 Kubikzentimetern Hubraum verwendet, sondern es gibt für einige Modelle auch den größeren 114er-V2 mit 1.868 Kubikzentimetern Hubraum. Als mittlerweile 13. Version der Modellfamilie gesellt sich nun als „kleinste“ Softail mit dem fetten Twin die kürzlich in San Diego präsentierte Low Rider S hinzu: Mit 19.795 Euro bleibt sie, wie auch die Fat Bob 114, so eben noch unter der 20.000-Euro-Grenze, während sie die 300-Kilo-Marke um acht Kilogramm überschreitet. Gegenüber der Low-Rider-Basisversion mit dem 107er-Triebwerk sind bei der S-Version allerlei Änderungen zu notieren, die den Fahreindruck recht deutlich beeinflussen.
Eine echte Neuheit – in 2. Auflage
Wer sich angesichts der Modellbezeichnung Low Rider S an eine Harley dieses Namens zu erinnern glaubt, liegt richtig: 2016 war die erste Low Rider S erschienen, damals freilich auf Basis der inzwischen nicht mehr angebotenen Dyna-Plattform und mit dem vorherigen Twin Cam 110 Triebwerk. 1801 Kubikzentimeter betrug dessen Hubraum. Es war der seinerzeit gewaltigste Motor, den man in Milwaukee serienmäßig bereitstellte, von den in limitierter Auflage hergestellten CVO-Triebwerken mal abgesehen. Weil der damalige V2 die Abgashürde Euro 4 nicht zu überwinden vermochte, blieb die Low Rider S lediglich zwei Jahre im Harley-Lieferprogramm; 2018 flog sie wieder raus.
Mit diesem Vormodell hat die neue Low Rider S außer der Scheinwerferverkleidung und zwei, drei weiteren Kleinigkeiten nichts mehr gemeinsam. Insofern ist sie eine echte Neuheit. Dominierend beim Fahren ist ihr extrem durchzugsstarker V2, dessen Maximalleistung 94 PS/69 kW beträgt; weitaus wichtiger für den gewaltigen Bumms der Low Rider S ist jedoch ihr mächtiges Drehmoment: Bereits ab Standgas liegen mehr als 100 Newtonmeter an, der Gipfel von 155 Nm wird bei nur 3.000/min. erreicht. In der Praxis pfeilt die Low Rider S bei genügend Grip am Hinterrad davon, sobald etwa 2.000 Umdrehungen anliegen. Dann gibt’s bis fast 5.000 Touren kein Halten mehr. Mit vier Ventilen, Doppelzündung und ölgekühltem Auslassbereich ist der ansonsten luftgekühlte V2 des Typs Milwaukee-Eight 114 technisch up to date; zwei Ausgleichswellen sorgen dafür, dass keine störenden Vibrationen in den Quasi-Starrrahmen eingeleitet werden. Geschickt versteht es Harley-Davidson, der Low Rider S die Anmutung mit auf den Weg zu geben, der V2 sei ein so richtig brutaler Geselle: Dazu dient nicht zuletzt der ovale Luftfilter mit der fetten Zahl 114 drauf.
Für Ausflüge gemacht
Kenner wissen selbstverständlich, dass sich bei jeder Softail das Federbein, in der Vorspannung stufenlos hydraulisch einstellbar, unter dem Sitz versteckt. Es liefert angesichts von nur 11,2 Zentimetern Federweg eine erstaunlich gute Leistung ab. Die vordere Upside-down-Telegabel steht um zwei Grad steiler als bei der normalen Low Rider und sorgt für mehr Agilität. Erfreulicherweise spricht diese Gabel sogar sehr fein an, sodass auf den 13 Zentimetern Federweg nur wenige harte Stöße nicht unschädlich gemacht werden können. Auf vielleicht noch höherem Niveau arbeitet die Dreischeiben-Bremsanlage; das im Hintergrund wachende, optisch kaum erkennbare ABS greift, sofern nötig, beherzt ein. Wer die Low Rider S als ständige Begleiterin auserwählt und für sie zumindest 20.000 Euro auf den Tisch des Harley-Händlers gelegt hat, tut gut daran, sich permanent fit zu halten. Womit weniger die Armmuskulatur gemeint ist als vielmehr die Gelenkigkeit. Denn die Sitzposition ist nicht die Bequemste: Die Sitzoberfläche befindet sich nur 69 Zentimeter über dem Asphalt, wohingegen die Fußrasten einerseits zugunsten genügend Schräglagenfreiheit recht hoch und andererseits keineswegs weiter vorne montiert sind. Zudem ist der Lenker eher hoch und zugleich weiter vorn platziert. Als Konsequenz aus dem recht markanten Hüftbeugewinkel ergibt sich, dass die meisten Ausfahrten mit der Low Rider S wohl eher Ausflüge als weite Reisen darstellen. Für Strecken wie München – Frankfurt gibt’s Besseres im großen Harley-Programm. Dass unser Mann auf der Low Rider S kein Interesse an einer Sozia hat, ist augenfällig: Es gibt serienmäßig keine zweite Sitzmöglichkeit. Wer muss, kann aber einen zusätzlichen Sitz samt Fußrasten für die Dame des Herzens dazu ordern. Wie sehr der Coastal Look darunter leidet, wissen wir nicht, denn eine solcherart aufgemörtelte Low Rider S war weit und breit nicht zu sehen.
Extravagante Gefährtin
Kurvige Landstraßenpassagen absolviert die 308 Kilogramm wiegende Low Rider S durchaus willig. Sie lenkt leicht ein, der breite Lenker dient als guter Hebel. Die extravagante Gefährtin für markante Ausflüge macht optisch echt was her, ist sie mit ihrer nach hinten stark abfallenden Linie doch ein Bike, das man gerne anschaut. Auch ihre 9-Speichen-Leichtmetallgussräder in Dark-Bronze passen gut ins Bild. Weniger ins Auge sticht sie, wenn sie in Barracuda Silver lackiert ist, mehr dagegen, wenn sie in Schwarz vor dem Betrachter steht. Ach, was heißt da Schwarz: Vivid Black nennt sich die Lackierung. Dazu kommen aber vier weitere Schwarztöne: Der Motor, die Abdeckung des Primärantriebes und die Tankkonsole mit ihren zwei Rundinstrumenten werden in Wrinkle Black ausgeführt, wohingegen der Kupplungsdeckel, der Luftfilter und die unteren Rockerbox-Abdeckungen in Gloss Black getaucht sind. Die Auspuffanlage mit ihren Hitzeschilden ist im eindrucksvollen Jet Black lackiert, während die Gabel samt Gabelbrücken, der Riser und der Lenker sowie die hinteren Schutzblechhalterungen mit Matte Black beschichtet sind. Alles klar?
Zur konsequenten Schwarzmalerei kommt eine hochwertige Ausstattung mit einem Keyless-System, LED-Scheinwerfer, perfekt automatisch zurückstellenden Blinkern, USB-Anschluss und vielem mehr. Nicht mit Ruhm bekleckert hat sich Harley freilich bei der Reifenwahl: Gilt der von Michelin nach Harley-Vorgaben gebaute Scorcher 31 bereits grundsätzlich nicht gerade als Gripwunder, so sorgten die Reifen der Testbikes im Falle der Low Rider S bei den Testern für einige Verwunderung. Sie waren teils schon vor zweieinhalb Jahren produziert worden! Kein einziger Frontpneu stammte von 2019, und auch die Hinterreifen waren allesamt älter als ein halbes Jahr. Ob sich unser Fitness-Fan mit Sinn fürs Besondere an solchen Umständen stört, weiß man nicht. Eher schon, dass er wohl zumeist zur schwarzlackierten Version und nur selten zu Silbermetallic greifen wird. Passt irgendwie ja auch besser zum bösen Grollen aus den schwarzen Sidepipes.