Ersteindruck der neuen Yamaha Ténéré 700

Vor zweieinhalb Jahren erstmals als Konzeptbike vorgestellt, ist die Yamaha Ténéré 700 jetzt endlich da. Und das lange Warten hat sich gelohnt.
 Hanspeter Küffer
 Jonathan Godin & Francesc Montero
Selten hat sich Yamaha mit der Entwicklung eines Motorrades gleichermaßen viel Zeit gelassen wie mit der Ténéré 700. Kein Wunder trägt doch die Neue den Namen ihrer ruhmreichen Vorgängerinnen aus den 1980er-Jahre und der verpflichtet. Erfahrene Offroad-Cracks haben den T7-Prototypen über mehrere hunderttausend Kilometer on- und offroad rund um den Globus gejagt, permanent optimiert und zur Serienreife weiterentwickelt. Das Resultat überzeugt: Die neue Ténéré 700 ist die beste Ténéré aller Zeiten.
Die Ténéré verzichtet auf Motormodi und Quickshifter – die hat der CP2 auch gar nicht nötig.

Bewährter Motor

Nun, komplett neu ist die Ténéré allerdings nicht. Der 74 PS starke Reihenzweizylinder-Crossplain (CP2) steht bereits bei der MT-07, der Tracer 700 und der XSR700 im Einsatz. Bis auf eine kürzere Übersetzung und ein überarbeitetes Motor-Mapping bleibt das kompakte und leichte Aggregat technisch unverändert. Aufgrund der Nasssumpfschmierung mit unten liegendem Ölreservoir baut der Motor allerdings relativ hoch, was einen tiefen Schwerpunkt und eine große Bodenfreiheit natürlich nicht begünstigt. Für die Ingenieure war genau dies eine der größten Herausforderungen, die jedoch souverän gelöst werden konnte.
Die Front im Rallye-Stil wird von einem Vierfach-LED-Scheinwerfer geziert, der verspricht, on- sowie offroad für ausreichend Sicht zu sorgen.
Linearer Drehmomentverlauf, spontane, direkte Gasannahme, Drehfreude, kraftvolle Beschleunigung garniert mit einem charakterstarken, kernigen Sound, der voll und ganz dem Adventure-Feeling entspricht – Herz, was willst du mehr. Motormodi braucht der CP2 nun wirklich nicht, auch keinen Quickshifter und andere Elektronikgadgets. Selbst eine Traktionskontrolle haben wir auf unseren Testfahrten nie vermisst. ABS ist an Bord und für Fahrten im Gelände abschaltbar. Aus der Konzentration aufs Wesentliche resultiert das geringe Gewicht von 187 Kilogramm trocken, respektive knapp über 200 Kilogramm mit vollem 16-Liter-Tank, welcher dank geringem Verbrauch Reichweiten von 350 Kilometer und mehr ermöglicht.
Vorne ist die Ténéré mit einer Upside-Down-Telegabel mit 43 mm Rohrdurchmesser und einstellbarer Federvorspannung, Zug- und Druckstufe bestückt.

Geländetaugliches Adventure-Bike

Im Gegensatz zum Motor ist der Stahlrohrrahmen eine komplette Neukonstruktion, wobei geschraubte Unterzüge die Wartung vereinfachen. Das hintere Zentralfederbein ist nahezu vertikal angeordnet und wird über ein Hebelsystem indirekt angelenkt. Vorne federt eine üppig dimensionierte KYB-Upside-down-Gabel. Alles ist voll einstellbar, die Vorspannung hinten ohne Werkzeug bequem per Handrad. Ausgerüstet mit Drahtspeichenrädern in den gängigen Offroad-Dimensionen 21-/18-Zoll und bereift mit grobstolligen Pirelli Scorpion Rallye STR Gummis, untermauert die neue Ténéré 700 ihren Anspruch als vollumfänglich geländetaugliches Adventure-Bike. Gleiches gilt für das Design, das den erfolgreichen Dakar-Rennern nachempfunden ist. Besonders markant ist die Front mit steil angestellter Scheibe und vier kleinen LED-Scheinwerfern. Und wie es sich für ein Offroad-Bike gehört, werden Motor, Gabel und Fahrerhände durch entsprechende Protektoren geschützt. Es muss nicht immer Farbe und TFT sein – das monochrome, im Hochformat angeordnete LCD-Cockpit ist sehr kontrastreich und durch die großen Schriften und Ziffern sowie die übersichtliche Gestaltung sowohl sitzend als auch stehend gleichermaßen gut ablesbar.
Das kontrastreiche Cockpit im Rally-Stil ist übersichtlich gegliedert und aus jeder Position perfekt ablesbar.

Weniger ist mehr

„Keep it simple“ – Das gilt auch für die Ausstattung. Alles, was man wirklich braucht, ist da, mehr nicht. Allfälliges Gepäck wird auf dem Beifahrersitz mit Gummizügen festgezurrt und an den diversen gut positionierten Haken und Knöpfen verankert. Koffer und weitere Accessoires sind optional erhältlich. Hinterbänkler finden die praktischen Kuhlen zum Festhalten unauffällig unter ihrem Sitz platziert. Und sollte die Karre einmal im Schlamm absaufen, erweisen diese Griffe beim Rausziehen weitere nützliche Dienste. Gleichermaßen praktisch ist die Scheibenhalterung, an deren horizontaler Querstrebe ein optionales Navi, nahe der externen Steckdose, optimal im Sichtfeld des Fahrers montiert werden kann.

Geländetaugliche Maße

Offroad-Dimensionen offenbart auch die Sitzhöhe: 875 Millimeter sollen es gemäß Yamaha sein. Aufgrund des schlanken Sattels ergibt sich ein relativ moderates Schrittbogenmaß (wird vom Boden über dem Sattel auf die andere Seite zum Boden gemessen), wodurch selbst Fahrer ohne Gardemaß im Stand mit beiden Füßen sicher den Boden erreichen. Und weil sich die schlanke Taille bis weit über den Tank nach vorne zieht, und die Fußrasten optimal platziert sind, offeriert die neue Ténéré perfekte Voraussetzungen fürs stehende Fahren im Gelände.
Das Federbein verfügt über 200 mm Federweg. Die Vorspannung ist ohne Werkzeug manuell per Handrad einstellbar.

Positiver erster Eindruck

Doch los geht es vorerst auf Asphalt und durch den dichten Morgenverkehr der katalanischen Provinzstadt Tortosa. Bereits auf den ersten Metern fällt auf, wie leicht und agil sich die Ténéré dirigieren lässt. Eins, zwei, drei, vier – beim Anfahren werden die Gänge nahtlos durchgesteppt. Die leichtgängige und gut dosierbare Kupplung überzeugt dabei ebenso wie das präzise zu schaltende Sechsganggetriebe und natürlich das druckvolle Drehmoment des CP2. In den schnellen Bögen Richtung Gandesa werden die Drosselklappen auf Durchzug gestellt, die Ténéré genießt den freien Lauf. Die leichten Unruhen im Fahrwerk schreiben wir dem böigen Wind zu, der in diesem Abschnitt zuweilen zu Orkanstärke auffrischt. Die Stunde der Wahrheit folgt kurz danach auf den ersten Kilometern auf leichtem Schotter. Der Guide schlägt gleich ein flottes Tempo an. Wie zuvor sitzend auf Asphalt, ist die Fahrposition hier im Stehen völlig entspannt. Wellige Passagen und Schlaglöcher bügelt das gut abgestimmte Fahrwerk klaglos aus. Ein allfällig ausbrechendes Hinterrad wird über die entsprechende Gasdosierung und Gewichtsverlagerung souverän wieder eingefangen. Das Feedback ist schlicht genial und signalisiert dem Fahrer in jeder Situation klar und deutlich, was angesagt ist. Das Vertrauen ist von allem Anfang an grenzenlos und lässt solche Drifts genussvoll provozieren.
Die Ténéré bietet optimale Voraussetzungen für stehendes Fahren.

Grenzenlose Schräglagenfreiheit

Perfekt asphaltierte Landstraßen mit engen Wechselkurven ohne Ende und kaum Verkehr – zwar ist die Route mit 170 Kilometern lediglich halb so lang wie am Tag zuvor, doch die Strecke hat es in sich. Abwinkeln von einer Seite zur anderen bis …   nein, nicht bis die Rasten schleifen, denn die Schräglagenfreiheit der Ténéré scheint grenzenlos. Auch hier ist das Feedback genial. Das gilt vor allem auch für die eigentlich fürs Gelände optimierten Pirellis, die den Grenzbereich vor einem allfälligen Grip-Verlust klar signalisieren. Die Brembos funktionieren ebenfalls sehr gut. Wirkungsvoll, perfekt dosierbar, ohne übertrieben harten Biss. Nicht zu vergessen der Motor, der einmal mehr mit seinem tollen Drehmoment begeistert.

Eindrucksvoll bis zum Tagesende

In der abschließenden Offroad-Etappe setzt sich der CP2 diesbezüglich noch beeindruckender in Szene. Schmale Feldwege, grobe Stufen, enge Kehren, steile Anstiege, trickreiche Abfahrten – oft sind Schritttempo, erster Gang und Trial-Stil angesagt. Dabei sinkt die Drehzahl zuweilen knapp über Standgas, doch selbst aus diesen Tiefen nimmt der Motor fein dosierbar Gas an und beschleunigt souverän, ohne abzusterben. Und zum Abschluss, sozusagen als Dessert, gibt es noch einen coolen Offroad-Abschnitt mit quer zur Fahrbahn verlaufenden Regenrinnen. Im Sprung über diese Wellen zu fliegen, macht mächtig Spaß, zumal das Fahrwerk selbst hier nicht an seine Grenzen kommt.

Fazit

Weniger ist mehr, das zeigt Yamaha mit der Ténéré auf beeindruckende Art und Weise. Sowohl auf der Straße als auch offroad überzeugt die 700er mit unerwarteter Souveränität. Die neue Ténéré 700 ist nicht bloß eine würdige Nachfolgerin der Legende aus den 1980er-Jahren, sie ist die beste Ténéré aller Zeiten. Das lange Warten hat sich gelohnt. Und es lohnt sich, weiterhin zu warten, denn wer bisher noch nicht bestellt hat, wird aufgrund der Betriebsferien am Produktionsort, bei der Yamaha-Tochter MBK in Frankreich, nicht vor September fahren können. Der Preis von 9.299,-- Euro gilt für Onlinebestellungen bis Ende Juli. Anschließend kostet sie 300,-- Euro mehr.

#Enduro#Motorräder#Pirelli#Test#Yamaha
» Technische Daten anzeigen
Motorrad & Reisen Ausgabe 126 inklusive Hotel- und Reisespecial 2025
Die Top 10 Reiseenduros 2025 – welche ist die Beste?

Reiseenduros haben fast das komplette Tourersegment abgelöst, sind beliebter als je zuvor und sind die Alleskönner schlechthin – nur welche ist die...

Albanien–Express: Tour ins Motorradparadies

Per Motorradexpress gen Albanien – fahraktive Tour mit massig positiven Eindrücken durch ein Land, das sich derzeit sehr stark verändert.

Winterfluchten – Motorradreisen im Winter

Keine Lust mehr auf graue Tage und genug von der buckeligen Verwandtschaft? Hier kommt die passende Gelegenheit, um dem wichtigsten aller Vorsätze ...

Royal Enfield 650er Reiseenduro mit Himalayan-DNA – Erlkönig entdeckt

Royal Enfield bringt spätestens 2026 ein 650er-Adventure-Bike mit Twin-Motor und den Globetrotter-Genen der Himalayan. Erlkönig-Blattschuss in Süde...

Nexx X.WST3 – Streetracerhelm im Kawa-Dress

Nexx aus Portugal gehört zu den innovativsten Helmherstellern. Der Streetracerhelm X.WST3 punktet mit coolem Design, toller Ausstattung und Actionc...