Bourg-Saint-Maurice im Südosten Frankreichs haben wir als Ausgangspunkt gewählt, um die Alpenpässe der Region zu erkunden. Die Stadt liegt nahe der italienischen Grenze, südlich von Chamonix-Mont-Blanc, und bietet eine ideale Lage für unsere Touren.
Heute steht der Col de l'Iseran auf dem Plan, der sich von 700 m auf 2.770 m Höhe erstreckt und als höchste asphaltierte Passstraße der Alpen gilt. Er ist Teil der „Route des Grandes Alpes“ und verbindet Val-d'Isère im Norden mit Bonneval-sur-Arc im Süden. Die Straße ist nur in den Sommermonaten befahrbar, da sie im Winter aufgrund starker Schneefälle gesperrt ist.
Der Col de l'Iseran wurde erstmals 1938 im Rahmen der Tour de France befahren und gehört seither zu den herausragenden Anstiegen des Rennens. Auf beiden Seiten des Passes stehen Radwegweiser, die Informationen zur verbleibenden Distanz zur Passhöhe, zur aktuellen Höhe und zur durchschnittlichen Steigung auf den nächsten Kilometern liefern.
Bald lassen wir Bourg-Saint-Maurice hinter uns und folgen der D 902 in Richtung Val-d'Isère. Beidseits säumen Bäume die Straße und werfen ein reizvolles Spiel aus Licht und Schatten auf den Asphalt. Das Sonnenlicht auf unseren Visieren fühlt sich nach den regnerischen Tagen wie eine willkommene Abwechslung an. Die
Route führt durch dichte Wälder, die sich mit weiten, offenen Landschaften abwechseln. In gleichmäßigem Tempo kommen wir Val-d'Isère näher. Haarnadelkurven und kleine Dörfer prägen den weiteren Verlauf und sorgen für eine angenehme, wenn auch wenig aufregende Fahrt – bis wir den Punkt erreichen, an dem sich die Straße teilt.
Der Chevril-Staudamm, auch als Tignes-Staudamm bekannt, wurde zwischen 1948 und 1952 zur Gewinnung von Wasserkraft errichtet. Bei seiner Fertigstellung galt er als der höchste Staudamm Europas und sollte bis zu 10 % des französischen Strombedarfs decken. Mit dem Aufschwung der Kernkraft verlor der Damm jedoch an Bedeutung und wurde nie in vollem Umfang für seinen ursprünglichen Zweck genutzt. Für
die Bewohner des ursprünglichen Dorfes Tignes war der Bau des Damms ein schwerer Verlust, denn ihr Heimatort wurde durch den aufgestauten See überflutet. Sie mussten das Dorf weiter oben neu errichten – das heutige Tignes Les Boisses. Etwa
alle zehn Jahre wird der Stausee abgelassen, um Wartungsarbeiten am Damm durchzuführen. In dieser Zeit werden die Überreste des alten Dorfes sichtbar und Besucher können durch die ehemaligen Straßen spazieren, die sonst unter Wasser verborgen liegen.
Während wir weiter entlang des künstlichen Sees fahren, taucht am Ufer eine hohe, elegante Frauenfigur auf, die ihren Blick über das Wasser in Richtung der Altstadt richtet. Die Statue, bekannt als „Dame du Lac“, wurde 2003 zum 50. Jahrestag der Überflutung des ursprünglichen Dorfes errichtet. Einer
Legende nach soll sich eine Frau geweigert haben, ihr Haus während der Umsiedlung zu verlassen, woraufhin sie ertrank, als das Dorf überflutet wurde. Die Statue symbolisiert demnach ihre wachsame Präsenz über die versunkene Ortschaft. In
Wirklichkeit verloren jedoch 52 Menschen während der Bauarbeiten am Staudamm ihr Leben.
Nachdem wir den See hinter uns gelassen haben, durchqueren wir mehrere Tunnel, bevor wir Val-d'Isère erreichen. Das charmante Skistädtchen beeindruckt mit seinen gepflegten Chalets aus Stein und Holz sowie erstklassigen Hotels, die den Wohlstand widerspiegeln, den die Wintersaison mit sich bringt.
Obwohl wir uns bereits auf einer Höhe von 1.850 Metern befinden, wirkt die Fahrt dorthin erstaunlich mühelos, fast so, als wären wir kaum bergauf gefahren.
Allmählich verengt sich das Tal, die Steigung nimmt zu und die Straße führt durch eine Reihe geschwungener Kurven mit eindrucksvollen Ausblicken auf das, was uns erwartet. Nach einigen Kilometern erreichen wir den Talschluss und den von Wanderern viel genutzten Parkplatz Du Pont Saint Charles. Hier
beginnt der eigentliche Anstieg: Die Straße beschreibt eine Rechtskurve, überquert den Bach auf einer kleinen Brücke und windet sich anschließend in langen Zickzack-Passagen den Hang auf der gegenüberliegenden Talseite hinauf.
Für mich beginnt hier der eigentliche Col de l'Iseran. Mit jeder Kehre gewinnen wir an Höhe und blicken zurück auf Val-d'Isère, das tief im Tal unter uns liegt. Zahlreiche Baukräne deuten auf die fortschreitende Entwicklung des bekannten Skigebiets hin. Je
höher wir steigen, desto spärlicher wird der Baumbestand, während sich die Vegetation zunehmend in buschige Sträucher wandelt. Malerische Haarnadelkurven schlängeln sich über das Tal und rahmen die spektakuläre Kulisse der schneebedeckten Gipfel ein. Schon
bald fahren wir unter den Seilen der Fornet-Seilbahn hindurch und gewinnen weiter an Höhe. Nun befinden wir uns rund 700 Meter über Val-d'Isère, umgeben von buschigem Gras, verstreuten Felsen und vereinzelten Trockenmauern entlang der Straßenränder. In einigen Kehren reicht der Blick zurück bis nach Val-d'Isère und zum See, den wir auf unserem Weg passiert haben. Vor uns rücken die schneebedeckten Berge immer näher und wirken zum Greifen nah.
Die Vegetation wird zunehmend spärlicher und nimmt rostfarbene Töne an, während wir die letzten Abschnitte bis zum Gipfel zurücklegen. Schließlich gibt es kaum noch Pflanzen, nur die karge Hochgebirgslandschaft bleibt bestehen. Eine
Reihe von Kurven führt uns um einen kleinen, künstlich angelegten Stausee. An einer der Kehren begegnen wir einem Motorradfotografen, der jedes vorbeifahrende Motorrad aufnimmt und seine Internetadresse angibt, unter der man die Bilder bestellen kann. Am
höchsten Punkt angekommen, setzen einige Steingebäude einen menschlichen Akzent in die ansonsten trostlose Umgebung. Das größte Gebäude wirkt wie ein Restaurant mit Souvenirladen, doch es ist geschlossen.
Hinter dem geschlossenen Gebäude steht eine ansprechend gestaltete kleine Steinkirche mit dem Namen „Notre Dame de Toute Prudence“. Direkt in der Kurve der Straße befindet sich ein Steinsockel mit dem Höhenschild „Col de l'Iseran 2.770 m“. Wie
zu erwarten, hat sich hier eine Schlange von Motorradfahrern gebildet, die geduldig darauf warten, sich mit dem berühmten Schild fotografieren zu lassen.
Links zweigt eine Nebenstraße ab, die leicht ansteigt und schließlich zu einer kleinen Skihütte führt. Die ersten Hundert Meter dieser Straße werden als Parkplatz für Autos und Motorräder genutzt. Direkt
daneben erstreckt sich eine beeindruckende Ansammlung von Steintürmen – eine der größten, die ich je gesehen habe. Die Türme stehen dicht beieinander und wirken wie ein kleiner Wald aus Stein. Angesichts der exponierten Lage auf dieser Höhe ist es erstaunlich, dass sie stehen bleiben. Man könnte annehmen, dass ein starker Sturm sie hinwegfegt. Vielleicht passiert das sogar regelmäßig und die Steintürme werden Jahr für Jahr von Besuchern neu errichtet.
Dies ist die Passhöhe des Col de l'Iseran, der höchste asphaltierte Pass in den Alpen. Doch das Gefühl, sich auf 2.770 Metern Höhe zu befinden, stellt sich nicht wirklich ein. Der gleichmäßige Anstieg lässt den Pass weniger beeindruckend erscheinen als einige steilere Strecken, die wir bereits gefahren sind – obwohl diese tatsächlich niedriger liegen. Ich
steige von meiner Kawasaki ab und mache mich auf die Suche nach einem Blick zurück auf die Straße, die wir gerade passiert haben. Neben einer kleinen Kapelle auf demselben Hügel, auf dem auch die Steintürme stehen, finde ich schließlich eine geeignete Stelle – jedoch auf der gegenüberliegenden Seite. Erst
jetzt wird mir die Höhe bewusst. Nicht durch die Aussicht, sondern durch meine Kurzatmigkeit nach nur wenig Bewegung.
Sobald wir das nächste Tal erreichen, verläuft die Straße in engen Serpentinen entlang der linken Seite dieses viel breiteren und tieferen Tals. Der schneebedeckte Berg vor uns und die zunehmend dichter werdende Vegetation während der Abfahrt bieten beeindruckende Ausblicke. Aufgrund der zahlreichen Fotostopps dauert dieser Abschnitt für uns länger als gewöhnlich. Die
Landschaft auf dieser Seite des Passes wirkt schroffer und felsiger im Vergleich zur gegenüberliegenden Seite und die Straße ist insgesamt steiler. Wären wir die Strecke in umgekehrter Richtung gefahren, hätte sich die Ankunft auf der Passhöhe vermutlich eher wie die Auffahrt zu einem hohen Pass angefühlt. Letztlich bleibt dies jedoch eine Frage der Perspektive – wie so vieles im Leben.
Je weiter wir ins Tal hinabfahren, desto mehr verändert sich die Landschaft. Verlassene, rustikale Steinhäuser, rosafarbene Lupinen und grasendes Vieh prägen das Bild und sorgen für eine gänzlich neue Szenerie. Bald
taucht in der Ferne Bonneval-sur-Arc auf – das Ziel dieser großartigen Tour. Das Dorf wird oft als eines der schönsten Frankreichs bezeichnet. Ob das tatsächlich zutrifft, bleibt Ansichtssache, doch unbestreitbar ist sein besonderer Charme. Rustikale Häuschen mit dicken Steinmauern, warmen rötlichen Holzfenstern und Schieferdächern prägen das Ortsbild. Schon
in der ersten Kurve am Ortseingang begegnen uns liebevoll gestaltete Terrassen mit bunten Blumen, die den idyllischen Eindruck verstärken. Wir setzen unsere Fahrt fort, gespannt darauf, welche kulinarischen Entdeckungen uns in diesem kleinen Juwel erwarten.
Wir parken gegenüber einem Schild, das auf eine schmale Gasse zu einem kleinen Restaurant namens „Chez Mémé“ hinweist. Klein ist hier wörtlich zu nehmen – drinnen gibt es nur vier Tische, draußen sind es kaum mehr. Trotz des Andrangs haben wir Glück: Ein Paar verlässt gerade das Lokal und wir quetschen uns hinein. Platz für unsere Jacken und Helme ist kaum vorhanden, aber wir sind froh, einen Tisch ergattert zu haben. Ein
Blick auf die Speisekarte und ich entscheide mich für Tomate Burrata Pesto Vert für 15,-- Euro. Meine Erwartungen sind zunächst bescheiden, doch ich werde eines Besseren belehrt. Serviert wird eine riesige, goldgelbe Tomate mit einem Durchmesser von etwa 12 Zentimetern – zumindest die Hälfte davon. Sie thront mit der Schnittfläche nach unten in einem leuchtend grünen Pestopüree. Darüber sind Pinienkerne und schwarzer Pfeffer gestreut. Rustikal
, simpel und optisch überraschend – und geschmacklich ein Volltreffer. Seitdem empfehle ich dieses Gericht begeistert weiter. Die Qualität erinnert an ein hochklassiges Restaurant, doch hier gibt es eine großzügige Portion zum fairen Preis. Ein wahrer Genuss und der perfekte Abschluss für diesen großartigen Tag. Nun
steht die Rückfahrt bevor – die gesamte Strecke retour.